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Unsere Alben des Jahres 2020

 
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Alma Dinnebier

Taylor Swift – Folklore

Taylor Swift ist eigentlich bekannt dafür, dass sie ihre ‚Äras’ sehr genau durchplant und einen großen Aufwand betreibt, die Ästhetik jedes neuen Albums zu perfektionieren. Deshalb war es eine doppelt große Überraschung, als sie dieses Jahr gleich zwei Mal neue Alben herausbrachte, die nur wenige Stunden vorher angekündigt wurde. Die Sängerin sagt selbst, dass sie das nicht geplant hatte, in der Isolation aber nicht aufhören konnte, zu schreiben.

Taylor Swift war schon immer gut darin, in ihren Liedern Geschichten zu erzählen, bisher immer ihre eigene. Dieses Album jedoch erzählt verschiedenste Geschichten, durch die Augen von verschiedensten Personen. Mit einem weniger polierten und ruhigeren Sound schafft Taylor Swift eine verletzliche und beinahe märchenhafte Atmosphäre, die diese zum Leben erweckt. Die Musik ist weniger poppig als auf den letzten Alben und man hört zum ersten Mal seit langem wieder ihre Wurzeln in der Countrymusik. Taylor Swift war noch nie eine herausragende Sängerin, das hat sich auch in diesem Album nicht geändert, aber ihr Songwriting ist so gut wie nie.
Für mich war das Album der perfekte Soundtrack in der Isolation, der eine andere Welt erschafft, in die man sich flüchten kann. Im Dezember kam dann ebenso Folklores Schwesternalbum heraus: Evermore. Im Stil dem ersten sehr ähnlich kann ich euch auch dieses Album nur ans Herz legen.

Anspieltips: „betty“ & „illicit affairs

All Them Witches – Nothing As The Ideal

Ich hatte bis zu diesem Herbst noch nie von der Band All them Witches gehört. Und eigentlich ist Psychedelic Rock auch gar nicht meine Musikrichtung. Aber als ich ihr neues Album Nothing As The Ideal gehört hatte war ich sofort begeistert. Mal laut, mal leise, arbeitet sich die Band durch die verschiedensten Arten von Rock, unterbrochen von ruhigen Instrumentals und Momenten, in denen nur White Noise oder Hintergrundgeräusche zu hören sind. Die acht Songs des Albums sind abwechslungsreich und interessant, ohne anstrengend zu werden. Besonders der letzte Song des Albums „Rats in Ruin“ lief bei mir des Öfteren auf Dauerschleife. Es ist für mich die perfekte Mischung aus entspannt und kraftvoll und passt perfekt zu dunklen Herbstabenden.

Anspieltips: „Enemy Of My Enemy“ & „Rats In Ruin

Hayley Williams – Petals for Armor

Die Band Paramore war für meine Teenagerzeit sehr wichtig und hat für immer einen besonderen Platz in meinem Herzen. Deshalb war meine Freude groß, als Hayley Williams, die Frontsängerin der Band, im Mai ihr erstes Soloalbum veröffentlichte. Das Projekt, das als eine Art Therapiemaßnahme startete, hat sich zu einem Album voller brutaler Ehrlichkeit entwickelt. In fünfzehn Songs verarbeitet die Sängerin Trauma, Depressionen und vergangene Beziehungen und erschafft sich selbst dabei eine neue Art der Weiblichkeit. Die Musik ist experimenteller und weniger upbeat als das letzte Paramore Album After Laughter, in dem ebenfalls schon Depressionen thematisiert wurden. Petals for Armor ist ruhiger und dunkler und probiert viel verschiedenes aus. Aber Hayley Williams, die für ihre Vocals bekannt ist, zeigt auch hier wieder, was sie drauf hat.
Ich habe das Album durch und durch gerne gehört und kann es nur empfehlen (außer ihr habt es nicht so mit Blumen-Metaphern).

Anspieltips: „Simmer“ & „Dead Horse

Annie Vandalewsky

Palaye Royale – The Bastards

Zwischen Philosophie und Aggression. Das im Mai 2020 erschienene Album The Bastards ist das mittlerweile dritte Album der Rockband Palaye Royal. Die drei Mitglieder der Band aus Las Vegas bezeichnen sich als hotteste Band 2018 und als Adrenalinkick für die Musiklandschaft. Sie punkten dabei mit Glam- und Fashion-Rockelementen. Gekleidet wie Punk-Soldaten veranstalten sie Touren wie Zirkusshows, künstlerisch und theatralisch. Frontmann Remington Leith erklärt auf der Band-Website, dass jedes Mitglied eine Rolle habe: der Pirat, der Vampir und der Gentleman. Vergleichen kann man Palaye Royale mit My Chemical Romance, Twenty One Pilots oder auch den frühen Arctic Monkeys. Ihr Album The Bastards ist ein spannender Genre-Mix, der von Wahrheit, Isolation und Aggression erzählt. Den Auftakt zum Album bildet dabei die Single „Little Bastard“. Sie gibt einen Einblick in die Stimmung und Themen des ganzen Albums. Das Gegenstück zu „Little Bastard“ ist die Single „Lonely“. Hier geht es um Frustration und den Ärger unerwiderter Freundschaften.
Laut Leith passe The Bastards auch sehr gut in dieses verrückte Jahr 2020, denn auch in der Isolation fände die toxische Gesellschaft ihren Weg ins Haus, da müsse man zusammenhalten.

Anspieltips: „Lonely“ & „Little Bastards

KYTES – Good Luck

Das Feel-Good Album für 2020. Good Luck ist der zweite Langspieler der 2015 in München gegründeten Indie Band KYTES. Mit poppigen Synthie-Sounds erzählen KYTES Geschichten und Gefühle des Alltags. Die vier Schulfreunde veröffentlichten 2016 ihr erstes Album Heads and Tales und gewannen den Music Award als beste Nachwuchsband. Letztes Jahr gründeten sie ihr eigenes Lable „Frisbee Records“. Ihre Musik und ihres Videos erinnern an Bands wie Phoenix oder Two Door Cinema Club. Dabei machen sie mit 80er-Jahre-Vibes Lust auf Sommer und Tanzen. Ihre Musik wird von einer kontinuierlichen Aufbruchsstimmung getragen. Geprägt von Mut und Freiheit und ein wenig Sorge vor dem Ungewissen bietet Good Luck das perfekte Dauerschleifen-Album. Neben den Feel-Good-Songs haben es auch ein paar ruhigere Lieder auf das Album geschafft. Mit dem Titel des Albums möchte die Band ihren Songs und den Zuhörer·innen viel Glück wünschen. Auch in der Pandemie sieht die Band ihre eigene Aufbruchsstimmung nicht unterbrochen, sondern nutzt die Zeit um ihren Proberaum zum Studio umzubauen und neue Songs zu produzieren. Good Luck ist bestimmt nicht das Letze, was wir von KYTES hören werden und vorerst der perfekte Stimmungsbringer.

Anspieltips: „Alright“ & „Go Out

Dua Lipa- Future Nostalgia

Das Pop-Album des Jahres 2020. Die britische Sängerin Dua Lipa hat sich mit ihrem Album Future Nostalgia in die Topplayer der aktuellen Musikszene gesungen. Ihr bereits im letztes Jahr im Oktoberveröffentlichter Hit „Don´t Start Now“ ist einer der erfolgreichsten Songs des Jahres 2020, Dua Lipa aus den Charts nicht mehr wegzudenken. Future Nostalgia wird seinem Namen mit Disco- und Dance-Pop-Elementen vollkommen gerecht. Dua Lipa überzeugt mit zeitloser, energiegeladener Tanzmusik mit Ohrwurmpotential. Die 25-jährige begann mit Covern von Bob Dylan oder David Bowie auf Soundcloud und wurde 2015 entdeckt. Zwei Jahre später erschien ihr erstes, nach sich selbst benanntes, Album. Ihre Musik bezeichnet sie selbst als „Dark-Pop“. Mit ihren Songs gewinnt Lipa zahlreiche Preise, so ist Future Nostalgia ist unteranderem als Album des Jahres bei den Grammy Awards nominiert. In diesem Jahr war sie unteranderem im Feature mit Miley Cirus in dem Song „Prisoner“ zu hören. Sie ist eine unabhängige, selbstbewusste Power-Frau, die die Popwelt gerade mit ihrer unaufhaltsamen Energie für sich einnimmt. Future Nostalgia bietet einen bunten abwechslungsreichen Mix, der zum Tanzen und Gutfühlen einlädt und bestimmt nicht enttäuscht.

Anspieltips: „Break My Heart“ & „Levitating

Anton Schroeder

clipping. – Visions Of Bodies Being Burned

Wo soll man in der heutigen Popmusik noch nach Innovationen suchen? Die Rockmusik scheint bis auf einzelne Ausreißer auserzählt, währenddessen scheint es im Popgenre jedes Jahr ein neues großes Revival zu geben (so war 2020 mit Releases von Róisín Murphy, Jessie Ware und Kylie Minogue wohl das große Jahr der Discomusik). Sonderlich progressiv ist Weniges.
Doch die Antwort auf die Eingangsfrage ist nicht sonderlich schwierig: im Hip-Hop. Und zwar weder im chartdominanten Shishabar-Party-HipHop, der sich in den letzten Jahren so stark auf den Pop, teilweise gar auf den Schlager zubewegt hat, noch im traditionellen Oldschoolbereich des Genres, wo die Hosen noch immer weit und die Reimketten möglichst lang sein müssen – nein, die Innovationen findet man am expermientellen Rand des Genres, dessen Berührungspunkte häufig in den Sphären von Industrial oder IDM liegen. Neben Akteuren wie Death Grips oder JPEGMafia hat sich hier in den letzten Jahren vor allem ein Name ins Rampenlicht gespielt: das Trio clipping. aus L.A. macht Kunst zwischen Avantgarde, Versuchsaufbau und Konzeptmusik – ihr neues Album stellt da keine Ausnahme dar.
Visions of Bodies Being Burned ist, wie auch schon der Vorgänger There Existed An Addiction To Blood, eine musikalische Annäherung an den Horrorfilm, und das hört man auch. Die Instrumentals, welche größtenteils aus virtuos zusammengesetzen Sounds des Horrorsounddesigns bestehen (hämmern, schreien, quietschen) entfalten ihre Genialität vielerorts vor allem durch ihren Kontrast zwischen an Noise-Musik erinnernder Brachialität und punktuell gesetzten Momenten absoluter Stille. Die spannendsten Momente in Horrorfilmen sind schließlich nicht immer die lauten.
Dazu kommen Rapper Daveed Diggs klaustrophobische Rap-Ergüsse, die immer so klingen, als würde er gerade einem zukünftigen Mordopfer hinterherhetzen.
Diese beiden Komponenten sorgen für eine der überraschendsten und intensivsten Albumerfahrungen dieses Jahres, auch wenn man sich wie am Ende eines guten Horrorfilms leicht erschöpft freut, wenn das abschließende Yoko Ono Cover „Secret Piece“ erklingt und vor dem geistigen Auge die Credits zu rollen beginnen.

Anspieltips: „Looking Like Meat“ & „Enlacing

Fiona Apple- Fetch The Bolt Cutters

Fiona Apples Fetch The Bolt Cutters ist in puncto Album des Jahres 2020 wohl so etwas wie der „elephant in the room“ – kaum eine Platte der letzten Jahren wurde von Kritiker·innen derart einstimmig in den Himmel gelobt. Die Website albumoftheyear.org zählt sage und schreibe achtzehn Musikjournalien, die Fetch The Bolt Cutters dieses Jahr als Projekt des Jahres gekürt haben, darunter Größen wie The Guardian oder Pitchfork.

Und was soll man sagen? Es ist eben auch ein fantastisches Album! Man muss es ganz klar benennen: Fiona Apple gelingt auf ihrer fünften LP tatsächlich so etwas wie eine kleine Revolution der Singer-Songwriter Musik, indem sie eine radikale Abwendung vom Hübschen, vom „liederhaften“ Klischee der hübschen Frau an der Gitarre, gar von der Melodie überhaupt zelebriert und den Weg frei macht für das fast reine Rhythmische, das hier klar im Vordergrund steht – eigentliche Melodieinstrumente wie das Klavier scheinen hier vor allem dazu zu dienen, auf ihnen herumzuschlagen. So entsteht ein Klangbild, das vollkommen einzigartig klingt. Eine Mischung aus Singer-Songwriter-Folk, Funk, Jazz, Percussionmusik und nicht zuletzt Rap, denn auch Apples Gesang hat über weite Strecken des Albums nicht mehr viel vom Melodiösen – polternd und kratzend peitscht Apple ihre Textzeilen förmlich auf die hermetischen Klangpattern.

„Well, good morning, good morning / You raped me in the same bed your daughter was born in“

Und auch lyrisch ist Fetch The Bolt Cutters ein außergewöhnliches Album. Der Titel, auf Deutsch so viel wie „Holt die Bolzenschneider“, deutet bereits an: hier wird abgerechnet. Mit den Dämonen im eigenen Kopf, patriarchalen Figuren sowie Bedingungen, psychischem und physischem Missbrauch, ungesunden Beziehungen, fehlender Solidarität unter Frauen und, und, und. So wird jeder Song zum Bolzenschneider, mit jeder Textzeile der rilkesche Käfig ein Stück weiter aufgebrochen.

Ein herausragendes Album, ein atemberaubender Befreiungsschlag.

Anspieltips: „I Want You To Love Me“ & „Under The Table

Baxter Dury- The Night Chancers

Gegen Ende von Michael Scorseses Film Wie ein wilder Stier aus dem Jahr 1980 gibt es eine Szene, an die ich bei Baxter Durys Musik oft denken muss. Die Karriere von Boxer Jake LaMotta (Robert DeNiro) ist vorbei, inzwischen besitzt er einen Nachtclub, in dem er selbst als Stand Up Comedian auftritt. Seine Jugendlichkeit hat LaMotta längst eingebüßt, das Gesicht ist gezeichnet von den vielen Kämpfen, der Körper aufgequollen, im weißen Anzug wirkt er etwas verloren, wie er da auf der Bühne steht und dreckige Witzchen reißt. Dennoch dominiert LaMotta die Bühne wie zuvor den Boxring, das Publikum johlt. Zum Abschluss seines Auftritts fangen die Musiker hinter ihm an zu spielen und der einstige Boxer sagt ein Gedicht auf.
Eine ähnliche Rolle nimmt Baxter Dury auf seinen Alben ein: ein in die Jahre gekommener Showman, der sich in der Gegenwart nicht so ganz zurechtzufinden weiß, voller Nostalgie und immer ein wenig gequält, aber voller Galgenhumor ob der eigenen Unzulänglichkeiten.
Auf The Night Chancers, Durys neuestem Album, bleibt er seinem etablierten Stil treu: smoothe Basslines dominieren das Klangbild, die ebenfalls stets prägnanten Synthesizerklängen klingen immer schmerzlich klagend – und dann fängt der Sohn von Protopunk-Größe Ian Dury mit dickem Cockney-Dialekt und latent schlechter Laune an, zu erzählen. Vom alltäglichen Wahnsinn, der genauso alltäglichen Tristesse, modernen Männern mit Designerfrisuren und der Sehnsucht nach Liebe. Die Atmosphäre, die aus diesem Zusammenspiel erwächst, scheint sich aus einer anderen Zeit in die Gegenwart zu lehnen, sie beschwört eine Unterwelt der schäbigen Typen mit krummen Geschichten herauf, eine Welt klebriger Pornokinos und filterloser Zigaretten. Aber unter all dem Weltschmerz und Zynismus versteckt sich dann doch eine schwermütige Herzlichkeit, die immer wieder an die Oberfläche der Dury-Songs schwappt. Selten hat die Gegenüberstellung der ersten und letzten Zeile eines Albums so viel ausgesagt: aus „I’m not your fucking friend“ wird „Baxter loves you“.

Anspieltips: „Slumlord“ & „Carla’s Got A Boyfriend

Benedikt Hölzel

Culk – “Zerstreuen Über Euch”

Gute Songs machen ein gutes Album, oder? Das scheint eine recht einfache Antwort. Soll es damit getan sein, dass man einfach nur richtig viele Banger auf eine Platte presst und dann ein Album hat, was Geschichte schreiben darf? Irgendwie sollte das nicht mehr reichen dürfen. Es ist das Jahr 2020 und inzwischen liegt eine Vielzahl an unglaublich unangenehmen Vorfällen hinter uns. Dabei will ich gar nicht auf ein gewisses Virus hinaus – mir geht es an dieser Stelle um die Vielzahl von unsäglichen Vorfällen, welche die #MeToo-Bewegung zum Vorschein gebracht hat. In diesem Zusammenhang ist die Musikindustrie nicht gut weggekommen und die eigenen Musiksammlungen wurden einer Untersuchung auf Hörbarkeit unterzogen. Unglaublich frustriert musste auch ich einige grandiose Alben aussortieren, die ich nicht mehr in meinem Regal sehen wollte. Genau hier erscheint die Wiener Band Culk mit ihrem Album Zerstreuen Über Euch. Diese Postpunk-Band mit Sophie Löw als Frontsängerin legt es darauf an, die Lücken in den Musiksammlungen zu füllen. Mit ihren Texten, die sich besonders mit der Komplexität des modernen Lebens beschäftigen, hebt sie sich von ihren männlichen, österreichischen Kollegen ab. Hier wird sich nicht auf den österreichischen Dialekt als ironisches Mittel der Postmoderne verlassen. In unfassbarer Intimität werden Geschichten der Frau des 21. Jahrhunderts erzählt. Eine wort- und musikgewaltige Kampfansage an das Patriarchat. Ein Album, welches in mir genau die richtige Zielgruppe trifft: Den weißen Mann in den „Ruinen“ seiner alten Ordnung: „Denn wer du mal warst bist du schon lange nicht mehr“. Einfach ein Album, auf das man sich verlassen kann. Meine absolute Nummer eins.

Anspieltips: „Ruinen“ & „Nacht

Acht Eimer Hühnerherzen- “album”

Die Musik von Acht Eimer Hühnerherzen kann man wohl kaum besser beschreiben als mit „Powerviolence-Folk, Kakophonie und Bindungsangst“. Diesen kleinen Diebstahl einer Selbstbeschreibung kann ich nur damit entschuldigen, dass es so verdammt gut passt. Der gesamte Stil der Band zeigt sich komprimiert in „Somnambulismus“. Das Album wird durch diesen Song direkt mit der kompletten Zerrissenheit dieses Jahres eingeleitet. Irgendwo im Spannungsfeld zwischen fröhlichem Mitwippen und kompletter Lethargie. „Mir ist zu weit in dieser Enge und zu weit in diesem Raum“, singt die Sängerin Apocalypse Vega. Alles begleitet von unschuldig daherkommenden Gitarren. Es ist fast, als hätten sie einer hedonistischen Generation, die ihrem Hedonismus beraubt wurde, eine Hymne geschrieben. Dabei kann man auch nie genau sagen, ob sie dieser Kultur kritisch oder begrüßend gegenüberstehen. Ich kann es kaum anders sagen, aber so sehr habe ich mich selten mit einer Band identifiziert. Ein vergleichbares Gefühl hatte ich vielleicht mit den ersten Alben von Schnipo Schranke, aber das ist auch schon wieder verdammt lange her. Mit dem Album „album“ liefert Acht Eimer Hühnerherzen ein modernes Stück punklastiger Generationsgeschichte.

Anspieltips: „Somnambulismus“ & „Immer Schlimmer

Aidan Knight- Aidan Knight

Selbstbewusst hat der Folksänger Aiden Night dieses Album nach sich benannt, doch es ist nicht Narzissmus, der aus dieser Entscheidung spricht. Aiden Night ist eher eine verblüffend ehrliche Auseinandersetzung des Künstlers mit sich selbst. Irgendwo zwischen Selbstfindung und Selbsteingeständnis bewegen sich die Texte des Kanadiers. Für ihn steht emotionale Authentizität im Vordergrund. Dabei geht er so weit, dass für ihn ein Song erst gut ist, wenn er sich beim Singen verletzlich fühlt. In diesem Zusammenhang stehen auch die Thematiken des Albums. Als bestes Beispiel für die ungefärbte Ehrlichkeit findet man auf der Platte den Song „Rolodex“. Hier verhandelt er die Angst vor Trennung und die Selbstzweifel des Vaterseins. Genau diese Themen sind es, die dieses Album zu etwas besonderem machen. Alles gepaart mit einer Sprache, die seine Verletzlichkeit unverblümt darstellt. Aiden Knight lädt mit offenen Armen dazu ein, ihn in seine Gedankenwelt zu begleiten, doch in dieser dreht es sich nicht nur um ihn selbst. Der Song „Veni Vidi Vici“ kennzeichnet ihn als ungeheuren Empathen. Es ist ein Song, in dem er die Ausgrenzung von Trans*personen thematisiert. Besonders zu schätzen ist dabei die subtile Poesie seiner Arbeiten. Große Empfehlung. Super Typ, super Album!

Anspieltips: „Rolodex“ & „Veni Vidi Vici

Charlotta Westphal

Phoebe Bridgers – Punisher

Phoebe Bridgers – ein Name für sich (und für den deutschsprachigen Raum sicherlich auch schwer korrekt auszusprechen) hinterlässt auch in diesem Jahr bei mir wieder mal einen bleibenden Eindruck. Ihr erstes Soloalbum Stranger In The Alps von 2018 sollte eigentlich mein Soundtrack für dieses verworrene und total verrückte Jahr 2020 werden. Doch am 18. Juni veröffentlichte die 25-jährige Künstlerin dann ihr zweites Studioalbum Punisher und schon wendete sich dieser Gedanke. Die hauchzarte und doch so klare und starke Stimme von Phoebe Bridgers überrennt und streichelt einen gleichermaßen beim Hören. In dieser ganzen Zeit der Isolation, Unsicherheit und Überforderung nimmt sie einen an die Hand oder lässt einen in der Traurigkeit der eigenen Melancholie versinken. Punisher brachte Bridgers vier Grammy-Nominierungen ein und bewegt sich, betitelt als „Indie-Rock“ oder „Emo-Folk“, in ihrer eigens kreierten atmosphärisch-melancholischen Welt. Zwischen so manch kryptischen Texten verbirgt sich oftmals eine Note der Selbstreflexion und Autobiografie. So singt sie beispielsweise in “Kyoto” über ihren Vater:

„You called me from a payphone (…) / To tell me you’re getting sober / And you wrote me a letter / But I don’t have to read it / I’m gonna kill you / If you don’t beat me to it”.

Phoebe Bridgers kehrt in diesem Album ihr Innerstes ganz unaufdringlich und unterschwellig nach außen. Sie ist Meisterin darin, ihre eigenen Emotionen gleichzeitig so klar anzusprechen und trotzdem durch kleine Details und Phrasen diese Unsicherheit und Verletzlichkeit so zu relativieren, dass von Kitsch und Selbstmitleid keine Rede sein kann.

„But now I am dreaming / And you’re singing at my birthday / And I’ve never seen you smiling so big / It’s nautical themed”

Auf Punisher wird man in den Arm genommen, von dem man gar nicht wusste, dass man ihn braucht. Besonders in diesem Jahr, welches an unser aller Kräfte so dermaßen gezerrt hat und in dem wir nun im Dezember die ausgezehrten Hüllen unserer selbst sind, bietet es einen Fluchtpunkt zum Weinen und Loslassen von all dem Druck und der Angst.
Den krönenden Abschluss dieses emotionalen und Seele-streichelnden Albums widmet Phoebe dem Ende der Welt.

„The billboard said “The End Is Near” / I turned around, there was nothing there / Yeah, I guess the end is here”.

Die eigene Machtlosigkeit über das Geschehen auf der Welt lässt auch mich in diesen Tagen nicht los und gerade deshalb fühlt sich „I Know The End“ so richtig an. Ein Schrei beendet nach über 5 Minuten das instrumentale Spektakel des Weltendes und somit das Album. Ein Schrei, den auch ich in mir spüren kann, für den ich selbst allerdings keine Stimme mehr habe. Denn eine der Stärken des Albums ist es, genau das auszusprechen, wofür man selbst keine Sprache mehr hat und was man sich nicht traut zu fühlen.

Anspieltips: „Kyoto“ & „I Know The End

Slow Kill- Dead Kids R.I.P. City

Die Post-Punk Band Soft Kill veröffentlichte zum Ende des Jahres am 20. November ihr neues Album Dead Kids R.I.P. City und brachte somit die Dunkelheit des Novembers noch mehr zum Strahlen. Die dynamische Stärke des Albums macht es in meinen Augen zu einem der besonderen Musikschätze dieses Jahres und überzeugt vor allem durch den abgerundeten atmosphärisch vollen Sound. Die Stimme von Sänger Tobias Grave brennt sich dabei ins Gehirn und bleibt dort als unvergessliches Hörerlebnis zurück. Auch wenn einige der Lieder einen fröhlichen und tanzbaren Grundsound anschlagen, ist mir beim Hören jedoch nicht wirklich nach tanzen zumute gewesen. Die düstere, harmonisch bedrohliche Atmosphäre ist schwer in Worte zu fassen und belegt alles mit einem dumpfen Schleier an Dunkelheit und Schwere. Zusammengebaut aus einprägsamen Synthies, klaren Gitarrenriffs und vollmundigen Basslines baut Soft Kill einen ganz eigenen Sound, der sich gemischt mit Tobias Graves Stimme zwischen leuchtender Schönheit und tiefem Abgrund einpegelt. Kollaborationen mit Künstler·innen, wie beispielsweise Tamaryn im Song „Floodgate“, heben die Vielseitigkeit des Albums an und gliedern sich trotzdem federleicht ins Gesamtgerüst ein. Textlich sind die meisten Songs sehr minimalistisch, irgendwie hypnotisch gehalten und beschreiben in einigen Teilen die betrauernde Beziehung der Band zu ihrer Heimat Portland. Die Veränderung der Stadt brachte viele Verluste mit sich, denen sich die Band nun mit diesem Album widmet.

„This is our world / What are you waiting for? / I spent a day watching / I guess I was just wanting war”

Besonders hervorheben möchte ich den Song „Oil Burner“, der sich für mich in seinem Klang (und auch durch eine Länge von über 8 Minuten) vom Rest des Albums abhebt. Eine Gitarre, die im Kopf nachhallt und eine vertraute und doch traurige Umgebung schafft, leitet den Song ein.

„The man I met at Hooper / Had a noose around his neck / He was fed up / Before the drugs had took him / He was not afraid of death”

Ganz langsam und gefühlvoll wird man reingezogen in den dunklen Abgrund. Und dann scheint im Refrain Tobias Graves Stimme nahezu im Klang der Gitarren zu ertrinken.

„The day I left Milam / Had a leash around my neck / No longer fed up / Before the doors had opened / Laid tangled by a death”

Ein Lied, welches sich all die Zeit nimmt, die es braucht, um seine eigene Geschichte zu erzählen.
Die eigenartige und doch schöne poetische Weise, in der Soft Kill Geschichten erzählt, berührt mich jedes Mal auf eine andere Art und Weise und schafft es Emotionalität in den dunkelsten Ecken des Kopfes anzuregen.

Anspieltips: „Roses All Around“ & „Oil Burner

Slow Pulp- Moveys

Das selbst produzierte Debut-Album Moveys der Band Slow Pulp war eine der positiven Überraschungen, das dieses Jahr mit sich brachte. Bestehend aus Alexander Leeds, Emily Massey, Theodore Mathews und Henry Stoehr nahm die Indie-Rock Band Anfang des Jahres ihr erstes Album auf. Obwohl der Aufnahmeprozess erst durch einen schweren Autounfall von Masseys Eltern und dann durch die Corona-Pandemie unterbrochen und erschwert wurde, ist das, was seit dem 9. November nun in 10 Songs zu hören ist, ein absolut spannendes und hochwertiges Hörerlebnis geworden. Wie die letzte goldene Sonne im Herbst strahlt es Ruhe und Wärme aus und lässt einen tief in die emotionale Selbstfindung der Bandmitglieder eintauchen.

“If I could treat myself better / I know I’m still getting better”

So wird man auf die Suche nach sich selbst geschickt und wächst von Lied zu Lied gemeinsam weiter mit Slow Pulp. Die Gitarren erinnern an manchen Stellen evtl. an den Sound von Soccer Mommy, doch die elfengleich hauchende Stimme von Emily Massey verleiht jedem Song ein ganz eigenes federleichtes Gefühl. Mit ihren Texten setzen sie dort an, wo man selbst manchmal lieber aufhört weiterzudenken, aus Angst sich selbst zu verletzen.

“Why don’t you go back / To falling apart / You were so good at that / You’re one in a million now / You don’t want to take the time /You just need to seem alright”

Im Laufe des Albums spitzt sich die Emotionalität und Härte der Selbstreflexion immer mehr zu, denn selbst wenn manchmal alles gut ist, bleibt doch immer die Angst vor dem nächsten Tief, dem nächsten Rückschlag und der nächsten harten Zeit.

“I’m a bad mess / I’m a loner with no plans / Go back home / Try again / And again
I’m a contest / I’m a loser with no chance // Hold my hand / Again / And Again”

Immer klarer wird die Grundaussage des Albums – sich hinterfragen, finden, um Hilfe bitten – und schließlich endet die Reise mit der Befreiung von den eigenen Lasten.

“I said move it / Get outta here”

Voller Energie verabschiedet sich Slow Pulp mit einer Aufforderung zum Abschließen, Aufstehen und Weitermachen, auch nach einem schweren Jahr wie diesem!

Anspieltips: „Idaho“ & „Channel 2

Fabian Borrmann

City Morgue – Toxic Boogaloo

Die Sprechgesangsartisten Zillakami und Sos Mula haben sich vor drei Jahren zum Kollektiv City Morgue zusammengefunden und bringen seitdem harte Texte auf dreckigen Trap Beats. Klingt jetzt erstmal nicht besonders, man merkt jedoch beim Hören schnell die ungewohnte Brutalität des Sounds und die Parallelen zum Metal. Dabei erinnert die Musik kein bisschen an den Nu-Metal der 2000er sondern eher an Untergrund Trap auf Anabolika. Die Texte werden mit raspeliger Stimme in das Mikro geschrien und behandeln thematisch das Straßenleben, Drogen und Gewalt. Begleitet wird dies meistens von Gitarrenriffs, die nicht nur in kurzen Samplesequenzen zusammengeschnitten werden, sondern fester Bestandteil der Songs sind, ähnlich wie in der Rockmusik. Wenn ihr also mal wieder richtig Dampf ablassen wollt ist dieses Album euer Soundtrack!

Anspieltips: „Hurtworld ‘99“ & „Yellow Piss

Holly Humberstone – Falling Asleep At The Wheel

Wie bei vielen Interpreten bin ich auf Holly Humberstone zufällig über die YouTube Empfehlungen gestoßen und wurde von ihrem dunklen Pop-Sound sofort in den Bann gezogen. Monate bevor ihr Debütalbum erscheinen sollte hörte ich bereits die Single-Auskopplungen “Deep End” und “Falling Asleep At The Wheel” rauf und runter. Minimalistische Instrumentals auf denen mit wunderschöner aber verletzt anmutender Stimme von Beziehungen und Herzschmerz gesungen wird. Dabei werden die Themen keinesfalls kitschig oder gar peinlich behandelt sondern reflektiert dargestellt. Überrascht hat mich, dass die britische Multi-Instrumentalistin und Sängerin gerade erst 20 Jahre alt ist und trotzdem dermaßen reife und gut komponierte Musik produziert. Ich bin sehr gespannt auf den Werdegang Holly Humberstones und freue mich auf die nächsten Projekte!

Anspieltips: „Falling Asleep At The Wheel“ & „Drop Dead

Kkuba102 – Sachschaden EP

Eigentlich sollte anstelle dieser Platte die EP von Bring Me The Horizon stehen, jedoch habe ich über Post Human: Survival Horror schon zu genüge im Plattenbau November gequatscht. Statt experimentellem Metalcore jetzt also doch Deutschrap. Kkuba102 bringt man normalerweise mit der Gruppe 102 Boyz in Verbindung, die schon seit ein paar Jahren ihren ausufernden Drogen und Alkoholkonsum auf modernen Trap Beats zelebrieren. Thematisch bleibt Kkuba auf seinem Solo Debüt bei genau diesen Themen, hat sich für die Beats aber noch Verstärkung des Berliner Kollektivs Tiefbasskommando geholt. Dadurch klingt die EP wie ein Techno Set mit analogen Drum Machines und Synthesizern auf das aggressiv asoziale Bars gespittet werden. “Das ist die Sachschaden Disc, das kennt Deutschrap noch nicht.” Stimmt einfach. In diesem Sinne: Prost!

Anspieltips: „Bier auf Bier rein“ & „Goldkrone

Hannes Recknagel

The O’Reillys and the Paddyhats – Dogs On The Leash

Dogs on the Leash von den Paddyhats ist so ein Album, bei dem mal wieder alles passt. Kein Song, den man jedes Mal überspringt, keine langweiligen Stellen, bei denen man vorspult. Das kommt sicher nicht zuletzt aus der, wie ich finde, genialen Musikrichtung. Irish-Folk-Punk. Quasi die Weiterentwicklung von irischer Volksmusik, die dazu mit Punkelementen erweitert wird. Ich, Fan von beidem, finde diese Kombination genial. Fiddlers Green oder die Dropkick Murphys haben dieses Genre wahrscheinlich am effektivsten für den Mainstream geöffnet. Wer hat nicht schon mal „Rose Tattoo“ auf einer WG-Feier gehört?
Die Paddyhats sind 2017 mit ihrem ersten Album Seven Hearst One Soul in dieses Genre eingestiegen und sind für mich mittlerweile nicht mehr wegzudenken.
Aber kommen wir endlich zum Inhalt. Was steckt denn genau drin in meinem Platz 1?
Da wäre der Titelsong „Dogs on the Leash“. Ein Traum vom Ausbruch und dem Abwerfen der gesellschaftlichen Ketten, wie es in irischer Musik seit langem ein Thema war und ist. Modern akzentuiert rockten sich die Wahliren von der ersten Minute an in mein Herz.
Der zweite Titel „Here it goes again“ geht der Frage nach „Wer bin ich?“. Wichtig zu wissen, wenn man ausbrechen möchte. Und schade, dass die Message so untergeht, weil meine Beine einfach nicht stillhalten wollen.
Um einen, der ausgebrochen ist und seinen Traum erfüllt hat, geht es im vierten Lied. Der „Hobo of Mitchelstown“ hat seinen Erfolg zwar unverhofft wieder verloren, aber das hindert ihn nicht daran, im Jetzt zu leben und den Moment zu schätzen. Das kann man sich gut aufschreiben und immer dann lesen, wenn man auf sein Leben schaut wie auf einen Scherbenhaufen.
Wenn man diesen Hinweis nämlich nicht befolgt, geht es einem ganz schnell wie einem von den „Millions“ aus Song Nummer 5. Wer immer von einem Erfolg auf den nächsten hinarbeitet und sich nicht mehr am Leben selbst erfreuen kann, der wird ganz schnell sehr unzufrieden. Zum Glück kann man sich bei diesem Song tanzend am Leben erfreuen. Puh, was für eine Erleichterung.
Aber egal wie man sein Leben verbringt, am Ende erwartet jeden das gleiche Schicksal. Der „Ferryman“ mit der Startnummer 6 wird jeden von uns über den Fluss der Zeit bringen, wenn die Zeit gekommen ist. Und es wäre zu schade, wenn man erst dann bemerkt, wieviel man im Leben doch nicht gemacht hat, und was man alles hätte machen können.
Ein Glück, dass ich mit diesem Album nicht sagen muss, ich hätte zu wenig getanzt. Auch wenn die Songs oft einen traurigen, nachdenklichen oder kritischen Nachgeschmack hinterlassen, schmälert dies nicht den Spaß, den sie bringen. Und jetzt los! Abtanzen, bevor es zum nächsten Album geht!

Anspieltips: „Dogs On The Leash“ & „Millions

Feuerschwanz- Das elfte Gebot

Dieses Album wurde vom Campusradio Dresden schon einmal vorgestellt, aber ich finde es zu gut, als dass ich es nicht in meine Top 3 Alben dieses Jahres aufnehmen könnte. Deswegen hier für euch: Das elfte Gebot. Feuerschwanz haben vor über 15 Jahren angefangen, Mittelaltermusik zu machen – als Parodie auf Mittelaltermusik. In ihrem neuen Album Das elfte Gebot ist davon aber nur noch wenig zu hören. Zwar nehmen sie sich nicht immer ernst, aber aus den Spaßmusikern von der kleinen Bühne ist mittlerweile ein Gigant des deutschen Powermetal und der Mittelalter-Szene geworden, derauf kaum einem Festival mehr fehlt.
Mit diesem, ihrem 10. Album, haben Feuerschwanz spätestens den Sprung in den Mainstream geschafft. Die Coverversionen von „Ding“, dem Hit von Seeed (Gibt es die Band überhaupt noch?) und Rammsteins „Engel“ haben sie gezeigt, dass man auch mit mittelalterlichen Instrumenten Musik machen kann, die ein breiteres Publikum anspricht, als es die Mittelalterszene normalerweise vermag. Doch auch innerhalb der Szene machten sie sich mit „Kampfzwerg“ neue Freunde. Endlich haben kleine Frauen in der Metalszene ihren eigenen Song. Für die größeren gibt es die „Schildmaid“. Wie auf meinen anderen beiden Alben darf die Verherrlichung von Alkohol und Exzess nicht fehlen. Meine Lieblingssongs des Albums, „Lords of Powermet“ und „Mission Eskalation“, dürften das abdecken. Was fehlt noch für das perfekte Mittelalter-Metal Album? Auf jeden Fall mindestens ein aufs Äußerste episch klingendes Stück über ein Heer aus Elben, Zwergen und Menschen! Das decken wir mit „Unter dem Drachenbanner“ ab. Eine Parodie auf alle Minnesänger? Erledigt mit „Meister der Minne“ (Welches übrigens ein tolles Musikvideo bekommen hat). Und zuletzt vorgestellt: ein Grund, der Hedonismus erst so befriedigend macht. Der Tod. Dass alles Leben ein Ende hat, zeigt uns der Titeltrack des Albums: „Das elfte Gebot“. Die Aussage: Jeder stirbt, es kann jeden Tag soweit sein, also lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter. Eine mittlerweile etwas platte Aussage, aber musikalisch sehr gut aufbereitet!

Anspieltips: „Lords Of Powermet“ & „Unter dem Drachenbanner

Gossenpoeten – Tavernentempler

Die Dichter der Straße und Helden der Welt – die Gossenpoeten – haben mir das Jahr 2020, welches an sich ja nicht so pralle war, ein bisschen verbessert, indem sie ihr 2. Album veröffentlicht haben. 38 Minuten pure Lebensfreude und ein Trinklied nach dem anderen. Eine gute Medizin gegen Lockdown-bedingte Trübsal. Bei den Liedern, die aus den tiefsten Abgründen der Mittelalterszene kommen, kriege ich immer Durst. Durst auf Bier und auf mehr von diesem delikaten Schmarrn. Kann man es mir übelnehmen, wenn die fränkische Folk-Band mit Songs daherkommt, die da heißen „Tavernentempler“, „Freibierwahn“ und „Unterhopft“? Zumindest geht es im „Liebeslied“ tatsächlich um Liebe. Sorry, falls jetzt jemand an etwas romantisches gedacht hat, es geht natürlich wieder um Bier.
Die Tanzmuffel können zu dieser Musik übrigens wunderbar zum Bierkühlschrank begeben, um dem Tun der 4 Musikant·innen gebührenden Tribut zu zollen.
Dazu kommt, dass ihr mit dieser Band wunderBAR (lol) Punkte holen könnt, wenn es mal darum gehen sollte, wer die unbekanntesten Bands kennt. Denn mit knapp über 950 monatlichen Höher:Innen auf Spotify liegt der Band nichts ferner als Berühmtheit. Außer vielleicht Nüchternheit.
Ein Album, das sicher nichts für jeden ist, aber bei der ein oder anderen Post-Corona Party für ausreichend Trinkdisziplin sorgen sollte. Da fast jedes Lied vom Flaschengeist handelt, ist es schwer eine Empfehlung abzugeben. Mein persönliches Lieblingslied ist aber „Vagabundentanz“, einfach weil es an positiver Bescheuertheit kaum zu übertreffen ist. Ist Bescheuertheit überhaupt ein Wort? Mir egal, die Gehirnzellen, um mir darüber Gedanken zu machen, habe ich mir mit diesem Album und dem dazugehörigen Umtrunk mit chirurgischer Präzision entfernt.
In dem Sinne: Prost!

Anspieltips: „Vagabundentanz“ & „Zurück in die Gosse

Jennifer Georgi

Tame Impala – The Slow Rush

Die Widersprüchlichkeit des Titels dieses Albums der australischen Psychodelic-Rockband Tame Impala will nicht viel heißen, so veröffentlichten Kevin Parker und Band im Februar 2020 ein durch und durch stimmiges viertes Studioalbum.
Dabei ließ das Nachfolgealbum des international gefeierten Currents auf sich warten. So nahm sich Parker nach der turbulenten Zeit voller Auftritte in Clubs und Festivals, Reisen und Auszeichnungen, eine Auszeit zum Reflektieren und aufatmen. Währenddessen beschäftigt er sich immer wieder mit dem menschlichen Konstrukt von Zeit, welches letztendlich zum Thema des neuen Albums wurde. Das Zeit (k)eine Rolle spielt, lassen schon die Titel wie “It Might Be Time”, “Lost in Yesterday” oder „Tomorrow’s Dust” vermuten. Passend zur subjektiven Zeitwahrnehmung treffen in The Slow Rush vintage-gefärbte Sounds im Sinne des Psychedelic-Rock der 60er Jahre auf französischen Elektro-Pop. Ein Album, das vielleicht melancholisch zurück oder desillusioniert nach vorn blickt, aber den gegenwärtigen Moment garantiert versüßt.

Anspieltips: „Lost In Yesterday“ & „Borderline

Caribou – Suddenly

Dass Daniel Victor Snaith aka Caribou früher hauptberuflich den Wundern der Zahlenwelt nachgegangen ist, scheint kaum vorstellbar – hören sich doch seine vielseitigen und qualitativ hochwertigen Produktionen ein ums andere Mal an, als hätte der promovierte Mathematiker nie etwas anderes als Musik gemacht. Bemerkenswert und wahrscheinlich der Schlüssel zum langjährigen Erfolg ist, dass man der Musik die intellektuellen Mühen, die sie gekostet haben mag, keineswegs anhört. Stattdessen offenbart sie zwischen Euphorie und Melancholie die gesamte Gefühlspalette. Die meisten können nur eines zur selben Zeit sein, intellektuell oder körperlich, euphorisch oder melancholisch, doch die im Februar 2020 veröffentlichte LP Suddenly vermag all dies zu vereinen.
Inhaltlich nähert sich das siebte Album des gebürtigen Londoners der Thematik Familienleben – Ehepartner, Kinder, Eltern und Geschwister, sowie ihre Beziehungen untereinander. Passend zu diesen zumeist schwierigen Verbindungen fallen innerhalb der 12 Songs musikalisch zahlreiche abrupte Brüche, Stopps, sowie unerwartete Richtungsänderungen auf. Auch Snaiths Einflüsse aus Afrobeat, Funk, Soul und Fusion Jazz sind unverkennbar.
Der Titel „You And I“ steht exemplarisch für die durchdachte und doch hochemotionale Arbeit des Musikers. Der Song – eine Art musikalische Traumabewältigung mit einer 80er-Jahre-Synthesizer-Melodie, geht nahtlos in hochgepitchten sentimentalen Singsang über und mündet letztlich in einem ausschweifenden Gitarrensolo – vereint sind hier im Grunde drei Tracks, die zu einem in sich stimmigen Titel verschmelzen. In „Sunny’s Time“ paaren sich hoch- und runtergepitchtes Piano und eine HipHop-Vocalsample und in „Sister“, einem überaus typischen Caribou-Song, treffen leiernder Synthesizer und märchenhafter Gesang auf elektronische Störgeräusche. Sicherlich trifft die musikalische Experimentierfreudigkeit nicht jeden Geschmack und drückt auch teilweise etwas aufs Gemüt, doch für mich zählt Suddenly auf jeden Fall zu den musikalischen Highlights des Jahres 2020.

Anspieltips: „You And I“ & „Sunny’s Time

Kelly Lee Owens – Inner Song

Ende August 2020 war es endlich so weit. Fans mussten sich länger als erwartet gedulden, denn das 3. Album von Kelly Lee Owens war bereits für Mai 2020 angekündigt. Doch das Warten hat sich gelohnt.
Die walisische Songwriterin und Produzentin war früher Krankenschwester und behandelte Krebspatient·innen, jetzt macht sie Musik, die ihr dabei hilft schwierige Themen, Erlebnisse und Gedanken zu verarbeiten. So auch im neuen Album Inner Song, auf dem die Sängerin ihre persönliche Traumata aufarbeitet.
So hatte sich im vergangenen Jahr in Owens so einiges angestaut: der Tod ihrer Großmutter, die ihr sehr nahe stand und auch eine zehrende Liebesbeziehung steckte ihr noch in den Gliedern. Um dies zu verarbeiten besuchte die Waliserin Therapiestunden, in denen sie ihre Traumata aus ihrem Körper befreit wollte – die Musik half ihr nicht unwesentlich dabei, mit ihrer Stimme rüttelte sie an ihnen Problemen, löste sie und setzte sie letztendlich frei. Dieser Prozess spiegelt sich im auf Inner Song wieder.
Ihre mentale Aufarbeitung verpackt Owens in treibenden elektronische Rhythmen, die zum Tanzen verführen. Aber auch schiebende House-Klänge, anschmiegsamer Dream-Pop und meditativ anmutende Gesangsharmonien treffen im neuen Album aufeinander.
Für mich gehört das Album zu den Top-Jahrescharts 2020, da es zum einen musikalisch aufregend und zugleich beruhigend und tiefsinnig ist. Und zum anderen zeigt es, welche Auswirkung Musik auf den Geist und die Gesundheit haben kann und wie sie Menschen dabei hilft, schwere Zeiten zu überstehen. In diesem Sinne: bleibt gesund und viel Spaß beim reinhören.

Anspieltips: „Melt“ & „Night

Leonid Lewandowski

Yves Tumor – Heaven To A Tortured Mind

Yves Tumor schaffen den über mehrere Alben andauernden Sprung von einem Ambient-Experimental-Outfit zu einer geradezu radiotauglichen Art-Rock Band. Während die Emotionen des Hörers auf den ersten Projekten noch rein über die Klangästhetik der zusammengesetzten Fragmente transportiert, die Art und Weise wie genau ein Synthesizer oder eine Trommel klingt, zelebriert wurden, gibt sich Heaven To A Tortured Mind deutlich zugänglicher. Die ausbordenden experimentellen Strukturen wurden zugunsten eines kompakten und konventionellen Albumaufbaus aufgegeben, welcher viel Raum für einschlagende Pop-Refrains geschaffen hat. Pomp und Energie sind zu einem Teil auch Co-Produzent Justin Raisen (Charli XCX, Kim Gordon, Ariel Pink) zu verdanken.
Ob man es als Funk, Pop, Glam oder Psychedelic bezeichnen will – am Ende egal. Sean Bowie, Mastermind hinter dem Projekt, spielt mit Rockstarfacetten von Persönlichkeiten wie Prince, Bowie oder Michael Jackson und inszeniert sich ganz nebenher als Prototyp der Superstar-Persona einer neuen Generation. So wie Musik mehr ist als die Summe ihrer Instrumente, spielt der Faktor Personality bei Heaven to a Tortured Mind eine tragende Rolle, die einzelnen Hits zu einem großen Ausdruck zusammen zu schnüren.

Anspieltips: „Gospel For a New Century“ & „Super Stars

Dean Blunt – Roaches 2012-2019

Auf Roaches 2012-2019 verwertet Dean Blunt Schnipsel seiner Solo-Karriere der letzten acht Jahre zu einer hypnotisierenden Compilation. Damit ist nicht nur ein Überblick und Zugang zu der schwer erschließbaren Diskographie des Künstlers gewonnen, sondern auch eine Zusammenschau aus sich ergänzenden Miniaturen, die den Hörer durch kriminelle Londoner-Straßen-bei-Nacht-Stimmung und die notorisch verkopfte Sampling-Nutzung in ihren Bann ziehen. Zwischen dem Weirdo und Prankster (der einmal einen Betrüger zur Annahme seines NME Awards geschickt oder ein mit Gras gefülltes Spielzeugauto bei Ebay versteigert hat) und dem unter unzähligen Aliasse operierenden Experimentalmusiker spannt sich die Kunstfigur Dean Blunt auf, die durch ihr Gesamtwerk eine Faszination sondergleichen ausübt.
Der Sinn für die Größe der musikalischen Momente auf Roaches 2012-2019 stellt sich erst nach mehrmaligem Hören ein und kann durch die detailreichen und fordernden Exzentriken in den ersten Momenten vernebelt werden.

Anspieltips: „TRIDENT“ & „NITRO GIRLS

Sorry – 925

Seit die ersten Promo-CDs der londoner Band Sorry schon 2018 unseren Briefkasten verstopften, habe ich ungeduldig auf das Debut der pubertierenden Indie-Rock-Retter gewartet. Hohe Erwartungen sind zwar stets eine ungesunde Angelegenheit, betrügen in diesem Fall jedoch nicht den Hörgenuss. Und zwar weil 925 eine 1A Scheibe geworden ist: Über 13 Songs wechseln sich eingängige Indie-Pop-Rock Harmonien mit Post-Punk Exkursen, die sich auch gern überraschend ins Ausgefallene öffnen. Während sich die oberflächlichen Melodien sofort im Kopf festsetzen und für Kurzweiligkeit sorgen, zeigt sich die filigrane Textur vieler Songs erst nach mehrmaligem Hören und sorgt für Wiederspielwert. Komplexität in Einfachheit, zusammen mit Balance von Experimentierfreude und Fokus machen 925 zu einem unverschämt starken Debut einer der vielversprechendsten Bands der Insel.

Anspieltips: „As the Sun Sets“ & „Perfect

Michel Deter

Lianne La Havas – Lianne La Havas

Da sehr wahrscheinlich viele Albenreviews dieses Jahr mit den Worten anfangen: „2020 war ein so wildes Jahr, doch zum Glück hat (Künstler·in einfügen) mit (Albumtitel einfügen) uns einen Moment zum Durchatmen und Genießen beschert“, werde ich darauf verzichten. Trotzdem passt auch diese Binsenweisheit bei Lianne La Havas selbstbetiteltem Neo-Soul-Album, wie das Stäbchen in den Rachen (im guten Sinne). So hat die Singer-Songwriterin aus London auch mir diesen Sommer Momente zum Dahinschmelzen beschert. Gemeinsam mit ihrem beschwingten Fingerpicking, dynamischen Songstrukturen und schwirrenden Backgroundvocals klingt der Sound ihrer dritten Platte ziemlich live, analog und persönlich. Gerade persönliche Themen hat die 31-jährige Halb-Jamaikanerin im Gepäck und singt über das Aufflammen und Absterben einer Beziehung. Besonders ihre charakteristische Stimme macht dieses Album für mich zu einem Hinhörer. Mal schwebt sie zauberhaft durch den Raum, doch nur um sich in anderen Momenten schmetternd entgegenzuwerfen. Zwar könnte ich mit unzähligen Adjektiven von anmutig bis zärtlich ihr Gesangstalent beschreiben, doch soll es hier genügen, das Wort Vibrato zu erwähnen. Diese Gesangsart beschreibt eine sich stetig verändernde Schwingung zwischen zwei Tönen, die quasi gleichzeitig stattfindet. Lianne beherrscht dies in höchster Vollendung, befiehlt sie doch somit dem Zuhörer bei fast jeder gesungenen Zeile die Augen zu schließen und jeden Ton wie einen warmen Sonnenstrahl in sich aufzusaugen. Und genau diesen musikalischen Sonnenstrahl stellt für mich das Album im Corona-Jahr 2020 dar: Eine schmerzlindernde und beruhigende Melodie inmitten eines stürmischen Meeres voller bedrückender Nachrichten.

Anspieltips: „Bittersweet“ & „Sour Flower

Tom Misch & Yussef Dayes – What Kinda Music

Tom Misch, dieser Schlawiner. Hat es der Gitarrenflüsterer doch schon wieder nach 2018 in die Top 3 meiner Jahresalben geschafft. Da ich What Kinda Music auch schon zur Platte des Halbjahres 2020 gekürt habe, drücke ich nun ohne große persönliche Ansprüche copy and paste. Bitteschön! Man nehme einen Schlagzeuger, der zwei Kochlöffel gleichzeitig benutzen kann, einen Gitarristen mit butterweicher Stimme, eine Prise süßen Bass und voila! Fertig ist eine Platte voller Gaumen… äh Ohrenschmaus. Der blonde Schmuse-Groove-Prinz aus England, Tom Misch, serviert uns hier gemeinsam mit dem Schlagzeug-Virtuosen Yussef Dayes eine dicke Scheibe Groove. Jazzig, flirrend, atmosphärisch und dynamisch kommt das gemeinsame Studio-Album What Kinda Music der beiden Londoner daher. Eine perfekte Kombo, beherrscht doch der eine sein Instrument besser als der andere. Tom Mischs Album Geography landete schon 2018 in meinen Jahrescharts und auch Yussef Dayes brachte im selben Jahr mit seinem zehnminütigen Rhythmus-Ritt von „Love is the Message“ (absolute Song-Empfehlung!) meine Lautsprecher zum Qualmen. Dementsprechend groß waren die Erwartungen an diese Zusammenarbeit der zwei kreativen Beat-Konstrukteure. Es ist eine LP auf der Drums und Gitarren-Melodien ineinander verschmelzen, beide miteinanderspielen, sich mal jagen und dann wieder friedlich zusammen auf dem Sofa kuscheln. Insgesamt war das Album für mich eine schöne Begleitung in der eintönigen Corona-Zeit, in der auch Tom Misch aus seinem Schlafzimmer mal zwischendurch „hello“ sagte (die grandiosen „Quarantine Sessions“ auf Toms YouTube-Kanal sind eine kleine Bonus-Empfehlung).

Anspieltips: „Lift Off“ & „Nightrider

Verschiedene Interpreten – Blue Note Re:imagined

London Calling! Auch mein drittes Album kommt aus der Hauptstadt Englands und macht so langsam deutlich was alle ahnten: Die aufstrebende und innovative UK Jazz Szene hat’s mir angetan. Da kommt diese Platte gerade wie gerufen und lässt mir beim Anblick der Künstlerliste das Wasser im Mund zusammenlaufen. Auf Blue Note Re:imagined versammeln sich insgesamt 16 junge britische Musikerinnen und Musiker, um bekannte Klassiker des Blue Note Katalogs ganz neu zu interpretieren. Gerne würde ich schreiben, dass mir Blue Note Records schon vor diesem Jahr ein Begriff war, aber das ist leider nicht der Fall. Gegründet wurde das Plattenlabel Ende der 30er Jahre und veröffentlichte eine Vielzahl von einflussreichen und stilprägenden Jazzalben. Auch wenn meine erste selbstgekaufte CD ein Sammelalbum des Modern Jazz Quartets war, sind es unteranderem die hier auftretenden Künstler·innen gewesen, die meine Liebe zu Jazz und Soul in den letzten Jahren wieder neu geweckt haben. Da wäre zum Beispiel Jorja Smith, Brit Award Gewinnerin 2019, welche nach ihrem Debütalbum Lost & Found hier den Titel „Rose Rouge“ des Franzosen St. Germain in einer Art und Weise reinterpretiert, bei der einem ganz warm ums Herz wird. Mit dabei ist auch die fünfköpfige Jazzfusionband Ezra Collective, der Klaviervirtuose Alfa Mist oder dessen Kumpel und Soulsänger Jordan Rakei, welche beide sehr gut mit Tom Misch befreundet sind und einen gemeinsamen Podcast produzieren. Man sieht also: Auf der Insel ist die Jazzszene gut vernetzt und exportiert somit seit Jahren frische Talente und groovig-inspirierende Klangerlebnisse. Mit Blue Note Re:imagined servieren uns die Engländer diesmal eine große Tüte Fish’n Chips: Prall gefüllt mit fetten Beats und knusprig panierten Happen. Da kriegt man gleich Appetit auf das, was in den nächsten Jahren so kommen mag!

Anspieltips: „Etcetera (Visualiser) & Afronaut Zu – Steam Down“ & „Jorja Smith – Rose Rouge

Peggy Rudolph

The Palms – Charlie

Ein bisschen Hip-Hop, ein bisschen Blues, ein bisschen Rock, ein bisschen R&B. Welches Genre fehlt da nun noch? Ja, in all’ diesen Bereichen finden sich The Palms wieder, bestehend aus Johnny Zambetti und Ben Rothbard. Alles begann, als die beiden den Drang verspürten, die Grenzen der Musik außerhalb ihrer ursprünglichen Band Terraplane Sun auszutesten und auszuweiten. Wie der Bandname erahnen lässt, kommen beide Künstler aus Los Angeles und produzieren hier selbstständig ihre Musik. Charlie ist nun bereits das zweite veröffentlichte Album der Band. Mit unverwechselbaren Sounds, verträumten Synthesizer Klängen und den vielfältigsten Vocals setzt das Duo ihr neu entfachtes Feuer um und strahlt frische Energie aus. The Palms sind auf der Suche nach Freiheit und dem Sinn im Leben. Die Songs sind sehr facettenreich, mal happy und energetisch, mal langsam, bedächtig und nur begleitet von der Gitarre. Sie vermitteln nicht immer eine Botschaft und lassen somit viel Raum zur Interpretation.
Lasst uns ganz im Sinne von diesem Textauszug aus dem Track “Jello“ ins neue Jahr rutschen:

“So mellow, like Jell-O
Just take it slow, like a holiday
We’ll be just like kids sippin’ lemonade
So yellow, like Jell-O“

Anspieltips: „Nostalgia City“ & „Jello

Sam Smith – Love Goes

Bereits bei der Veröffentlichung von “How do you sleep?“ in 2019 war klar – da kommt etwas ganz neues! Endlich, im Oktober erschien Smith Smith’s neues Album Love Goes, eines der empowerndsten Alben des Jahres 2020. Smith bezeichnet es als “first proper heartbreak album“, denn im Gegensatz zu seinen älteren Alben dreht es sich nicht nur um erdrückenden Schmerz, nein, er macht aus Zitronen Limonade! Das somit dritte Album des 28-jährigen Londoners sprüht förmlich vor Energie und Positivität. Vor allem aber ist es vielseitig und facettenreich. Emotionale Balladen laden ein in eine ruhige, friedliche Klanglandschaft, stimmen nachdenklich und melancholisch. Und nur ein paar Minuten später wird die Stimmung wieder belebt und angeheizt durch spritzige funky Disco-Klänge, die zum ausgelassenen Tanzen einladen – natürlich ganz regelkonform in den eigenen 4 Wänden. Sam Smith begeistert mit ganzen 17 Tracks aus dem R’n’B-Soul-Pop und holt sich hier Unterstützung von bekannten Künstler·innen, wie beispielsweise Demi Lovato, Calvin Harris oder Normani.
Nun, ich glaube, dass dieses Album mir so einige Momente im grauen Corona-Alltag versüßt hat. Hört doch mal hinein!

Anspieltips: „How Do You Sleep?“ & „Young

Gus Dapperton – Orca

Meine absolute Lieblingsentdeckung in 2020. Orca von Gus Dapperton wurde im September veröffentlicht und ist geprägt durch Indie und Dream-Pop Töne. Dapperton’s zweites Album trägt einen besonderen Titel, denn er kündigt bereits an, mit welchen Themen er sich hier auseinandersetzt. Der Sänger verweist auf die Gefangenschaft vieler Orca-Wale. Deren grausame Freiheitsberaubung vergleicht er mit dem Menschenleben selbst, denn auch der Mensch kann sinnbildlich in einem Käfig eingesperrt und seiner Freiheit beraubt sein. Nur ist dies nicht immer auf den ersten Blick sichtbar. Somit lädt der Sänger ein in seine Gefühlswelt; in eine Gefühlswelt, die seine Songs melancholisch, düster, aber auch jugendlich-verträumt färbt. Knallig bunt gefärbt sind auch Dapperton’s Haare und Outfits, welche die Zuhörer zusammen mit den Klängen des Künstlers in einen bekannten amerikanischen High School Film in den 90er Jahren zurück entführen. Gitarren, Chöre, Klavier und seine kratzige, aber hohe Stimme – 10 spannende Tracks von Gus Dapperton, die man definitiv nicht verpassen sollte.

Anspieltips: „Palms“ & „Grim

Peter Zeipert

Sufjan Stevens – The Ascension

Getreu seinem inzwischen etablierten 5-Jahres-Rhythmus regulärer Veröffentlichungen tritt Sufjan Stevens mit seinem neuesten Streich The Ascension im Gepäck pünktlich wieder ins Scheinwerferlicht des großen, bunten Popzirkus. “Make Me An Offer I Can Not Refuse” heißt gleich der Opener von Stevens’ Neuling und in der Tat: So sehr man sich auch wehren mag, man wird sich seinen aufregenden und fein ausstaffierten Elektropopkleinoden nicht entziehen können. Der Nachfolger vom asketischen Carrie & Lowell setzt dessen Intimität zwar eine kühle Programmiertheit entgegen, schafft es aber wie zuletzt in dieser Größenordnung wohl nur Radioheads Kid A und anders als der stilistisch ähnlich gelagerte Vorvorgänger The Age of Adz, seine pluckernde Kalkuliertheit emotional im richtigen Maße aufzuladen, denn die Schaltkreise von The Ascension werden von zuckersüßen Melodien und der zärtlich-salbenden Stimme des Sufjan S. durchblutet. Einziges Manko: Bei 80 Minuten Spieldauer bleibt die ein oder andere Länge leider nicht aus. Wer mag darf “Sugar” also gern skippen und sich freuen, dass das Popjahr 2020 mit herausragenden Songs wie dem Doppelgespann “Death Star”/”Goodbye To All That”, der Tears-for-Fears-Verbeugung “Lamentations”, “Landslide” oder dem abschließenden 12-Minüter “America” beschenkt wurde.

Anspieltips: „Death Star“ & „America

Ana Roxanne – Because Of A Flower

“Changeable, accepting, merging, water moves fluidly from one form to another, easily transitioning from cloud to raindrop to sea”, heißt es in “Venus”, dem zentralen Stück von Ana Roxannes Zweitling. Müsste man ein Element wählen, das jenes Because of a Flower am besten beschreibt, wäre es wohl Wasser. Das betrifft nicht nur die fließenden, plätschernden und tröpfelnden Eigenschaften der Musik, sondern auch Ana Roxanne selbst, deren Lyrics unschwer als klare Absage an binäre Geschlechterzuschreibungen (Roxanne ist selbst intersexuell) und kategoriale Einpassungszwänge zu deuten sind. Dieses Prinzip der Grenzenlosigkeit trägt trotz unterschiedlicher Stimmungslagen auch die restlichen Tracks und verleiht Because of a Flower seine Form: “A Study in Vastness” macht so seinem Namen alle Ehre, “—” ist ein Hauch von Song und perlt new-ageig in Richtung Unendlichkeit, in “Camille” schweben Roxannes fragile Vocals daher und treiben auf Synthiewölkchen davon und “Take the Thorn, Leave the Rose” simuliert mit seinen reduzierten, Post Rock andeutenden Gitarrenakkorden ein Gefühl von Weite und Ewigkeit, das eine·n schließlich aus diesem wunderbaren Album entlässt.

Anspieltips: „Camille“ & „Venus

Better Person – Something To Lose

Mit ordentlich Schmalz kommen sie daher, die 9 neuen Songs von Adam Byczkowski alias Better Person und begründen dabei wohl das Herzschmerzpop-Album des Jahres. Soundästhetisch und stimmungstechnisch irgendwo im Spannungsfeld von David Lynch, George Michael und Talk Talk angesiedelt, liefert Liebe, das ewige Theodizee-Thema des Pop, den thematischen Überbau von »Something To Lose«. Die sehnsuchtsvolle Geste des Albumcovers transportiert sich so folgerichtig auch in die Musik hinein: Praktisch jeder Song zeigt sich im Modus des Lamento und ist tongewordene Rührung, als wolle Byczkowski das Distanzierungsdiktat des pandemischen Jetzt durch die Präsenz und Unmittelbarkeit der direkteinschießenden Gefühlsspitzen seines hochlodernden, dauerwunden Herzens aufheben. Trotzdem wird die fluffige Soft-Rockigkeit in Better Persons Debüt immer mal durchbrochen, etwa durch den Saxophon-Furor in “Hearts On Fire”, dem womöglich größten Hit dieses Albums, das eigentlich ausschließlich aus Hits besteht und seine Botschaft so universell in die Welt rausschickt, dass nicht einmal die potentielle Schranke der polnischen Heimatsprache, in der Byczkowski seine Kammerstückchen dann und wann vorträgt, zum Hindernis auf dem Weg in die Herzen der Hörerschaft wird.

Anspieltips: „Hearts On Fire“ & „Bring Me To Tears

Philipp Hechtfisch

Tame Impala – The Slow Rush

Dass Tame Impala schon längst die Spitze des weltweiten Pops erklommen hat, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Nach vier Jahren Abstinenz folgt mit The Slow Rush das vierte Studioalbum des australischen Multiinstrumentalisten Kevin Parker. Während das Debütalbum Inner Speaker und das darauffolgende Lonerism an psychedelischen Rockeinschlägen kaum zu übertreffen waren, trumpfte Currents mit überschwänglichen Bass- und Synthesizerklängen. Das neue Album schafft den Spagat zwischen beiden Richtungen und wirkt dadurch vielschichtiger und abwechslungsreicher. Doch beinahe hätte The Slow Rush ganz anders geklungen, wäre nicht das Haus Parkers durch einen Waldbrand im sonnigen Malibu zerstört wurden. Glück im Unglück, denn mit einer Lauflänge von knapp einer Stunde entpuppen sich die zwölf Songs als eine Fahrt, rückwärts durch die Zeit. Es geht um Nostalgie, Vergebung und Reflektion des bisherigen Lebens.
In diesem Kontext steht auch der Track “Posthumous Forgiveness”. In der ersten Hälfte werden aggressiv-rhythmische Synthesizerbässe aufgefahren, welche sich im zweiten Teil des Liedes zu einer harmonischen Vergebung an seinen verstorbenen Vater entwickeln. Das schwierige Verhältnis der Beiden reflektiert Parker in diesem Track.
Mit “It Might Be Time” wird ein wahnsinniges Schlagzeugfeuerwerk abgeliefert, die die im Text beschriebene Angst vor der inneren Paranoia perfekt untermalt. Ebenso gewaltig wirkt “One More Hour”, der schon fast wie eine kleine psychedelische Rockoper daherkommt und damit den krönenden Abschluss des Albums bildet. Jeder Song fühlt sich vielfältig an und selbst nach dem zehntausendsten Mal hören, entdeckt man immer wieder neue Details, die einen vorher noch nicht aufgefallen sind. Tame Impala ist für mich schon lange im Musikolymp angekommen. Jedoch werden jetzt sicher wieder einige Jahre ins Land gehen, bevor Kevin Parker uns mit neuen Kreationen überrascht.

Anspieltips: „Posthumous Forgiveness“ & „Breathe Deeper

Parcels – Live Vol. 1

Geschlossene Tanzflächen, leere Bars und stumme Wände zieren die Klubkultur dieser Tage. Was waren das für Nächte im Ostpol oder der Groovestation, in denen unentwegt das Tanzbein geschwungen wurde und die stickige Luft einem den Schweiß auf die Stirn treibt. Doch ein Lichtblick am Horizont holte das schimmernde Diskolicht in meine eigenen Wände zurück. Es handelt sich um (keine geringere) Band als Parcels. Die vier Wahlberliner aus Australien, namentlich Patrick Hetherington, Louie Swain, Noah Hill, Anatole Serret und Jules Crommelin, haben mit ihrem zweiten Album Live Vol. 1 den schillernden Discostern erneut zum Leuchten gebracht. Allerdings wird man auf der Platte vergeblich nach neuen Liedern suchen denn wie schon der Titel verrät handelt es sich hierbei um ein Live-Studio-Album, das in den Hansa Studios in Berlin aufgenommen wurde. Ganz richtig: das Studio, in dem unteranderem Iggy Pop, Depeche Mode und Nick Cave & The Bad Seeds weltweite Erfolgsalben produzierten. Nichtsdestotrotz erweitern und interpretieren Parcels ihre bisherigen Songs neu und warten in gewohnter Funk, Soul, Elektropop-Manier auf, der wie ein Mix aus Chic, Daft Punk und Jungle klingt. Nicht nur auditiv bieten Parcels mit den Titeln “Redline”, “IknowhowIfell” und “Elude” ihre eigene kleine Groove-Symphonie, sondern auch in visueller Form. Begleitet wurde die ganze Session von der Regisseurin Carmen Crommelin, die ihre Eindrücke wie folgt beschreibt:

“The magic of Parcels needs no added narrative if you’re lucky enough to witness them in creation. I wanted the camera to be both passive and intimate, so you could politely observe from a distance and walk through the room like a friend.”

Parcels waren und sind für mich Liebe auf den ersten Blick und verzaubern mich jedes Mal aufs Neue mit ihren funkigen Gitarren, Synthesizerklängen, polyphonen Gesangseinlagen, die gepaart mit ihrem 70er Jahre Erscheinungsbild die perfekte Kombination bilden.

Anspieltips: „Lightenup“ & „Iknowhowtofeel

Human Barbie – Get A Life

Der in Los Angeles, Kalifornien lebende Musiker Christopher Leopold, besser bekannt unter dem Namen seines Projektes Human Barbie, hätte beinahe das Musikmachen an den Nagel gehängt. Nachdem er sich von seiner damaligen Band The Fuzzy Crystals getrennt hatte, stand er an einem Scheideweg:

“I felt like I either needed to make something of my own or just stop and forget about recording music and being in bands.”

Zum Glück entschied sich Leopold für ersteres und präsentierte dieses Jahr sein Debütalbum mit dem Titel Get a Life. Der Eröffnungssong entführt uns mit sanften Cembaloklängen in die Welt von Human Barbie, die zwischen 60er Jahre Psychedelic-Rock, Baroque Pop und Bedroom Pop schwingt. Das knapp dreißigminütige Album wurde komplett auf analogem Tape aufgenommen und klingt somit nicht nur authentisch, sondern ist es auch. Der titelgebende Track Get a Life beschreibt, im Korsett melancholischer Countrygitarrenklängen, einen ordinären Lebensweg, ohne jemals den Mut gehabt zu haben etwas zu riskieren.

“Suck it up and get a job,
cause that’s what everybody does.
Nevermind the pain,
you’ll never come this way again.”

Human Barbies Texte sind oft durchzogen von einer seltsamen Traurigkeit, die jedoch im gleichen Moment von eskapistische Hoffnung geprägt sind. Der letzte Song “Be Careful What You Wish For” könnte dieses Gefühl nicht besser ausdrücken und bildet für mich den Abschluss eines Album, welches meine Gefühlswelt im Jahr 2020 perfekt widerspiegelt.

Anspieltips: „Get A Life“ & „Be Careful What You Wish For

Philipp Mantze

The Microphones – Microphones in 2020

2020 war nicht nur schlecht. Januar und Februar zum Beispiel. Was danach als ein Jahrhundertereignis über uns hereinbrach, haben so sicherlich die wenigsten erwartet. Denn als Phil Elverum im Juni ein neues Album unter seinem eingestaubten, jugendlichen Alias namens Microphones ankündigte, war die Verblüffung mehr als groß. Nicht nur liegt Mount Eerie, das letzte Album unter diesem Alias, 17 Jahre zurück, auch darf die Frage erlaubt sein, warum die Wiederbelebung eines Namens, der für Elverums frühe Schaffensphase stand, denn ausgerechnet jetzt stattfand. Corona wäre eine allzu leichte Verlegenheitsantwort. Die Albengenese begann eigentlich schon im Mai 2019, „In another time and another world“, gefolgt von einem Konzert unter dem Microphones Namen. Gleichwohl gesteht er ein: „maybe it’s well suited to a more slow and contemplative time.”

Warum? Der 42-Jährige Phil Elverum hat mit diesem Album versucht, seiner eigenen musikalischen Biographie auf die Schliche zu kommen, einen Zusammenhang zwischen seinem 17-, 20- oder 23-jährigen und seinem „erwachsenen“ Ich herzustellen. Entscheidende wegweisende Meilensteine, die irgendwo auf seinem Werdegang einmal Bedeutung hatten, ausfindig zu machen. So singt er etwa von dem einschneidenden Erlebnis eines Martial-Arts-Films in einem Openairkino, von einem Stereolab-Konzert, wo 15 Minuten lang ein einziger Akkord gespielt wurde. Aber natürlich geht es Elverum um mehr, als nur Fanboys und -girls geheime Details aus der Microphones-Zeit mitzuteilen, es geht um „something deeper […] that unterlies the exterior circumstances“. Ein Versuch des transdenzentalen Herausbrechens aus der Alltäglichkeit.

Im Eingangssatz wie auch danach immer wiederkehrend beschwört Elverum „the true state of all things“ herauf. Zumindest versucht er das. Der Versuch der Erzählung seiner musikalischen Lebensgeschichte und damit dem Versuch einer sinnstiftenden Erzählung stößt angesichts der conditio humana an seine Grenzen. Der Wind, das Wasser, das Feuer, alles geht weiter seine Bahnen, gleichgültig, aber mit einem Schmunzeln angesichts unserer Versuche, mehr als die bloßen Phänomene zu spüren. „The true state of all things is a waterfall with no bottom crashing end“. Wie besessen von der Idee der Ewigkeit, versuchte Elverum (u.a. angestoßen durch das Stereolab-Konzert) diese in seine Musik zu bringen. Doch bereits kurz nach der Veröffentlichung seines Meilensteins The Glow Pt.2 war er beim dächlichen Anblick des Mondes fasziniert und beängstigt zugleich: „Beneath a real infinity I felt my size […] seeing just for a secound the bottomless distance pressed against my face“.

Dass der Versuch, der schieren Absurdität unserer kleinen, allzu unbedeutenden Existenz dennoch Herr zu werden wohl niemals endet, spiegelt sich am deutlichsten in der musikalischen Komposition selbst wieder: ein einziger 45-minütiger Song, als Grundgerüst eine Akustikgitarre, die immer wieder die 2 gleichen Akkorde spielt: „I will never stop singing this song. It goes on forever“. Die harmonische Gitarre wird dabei recht im Stile seiner früheren Jahre immer wieder von vezerrenden Basslines, mächtigen Drone-Wänden und geschliffenden Drums überlagert. Auffällig ist, dass deren Einsetzen immer in Zusammenhang zum Textlichen zu stehen scheint.

Ihm ging es in diesem Album auch um eine Demystifizierung, eine Desillusionierung, um zu den „wahren Dingen“ zurückzukehren, fernab von Namen, Symbolen und dergleichen. Gerade für junge Leute dürfte es eine vielleicht zunächst schwierige, aber später befreiende und entlastende Botschaft sein, dass das Leben weniger eine Entwicklung mit Prolog-Hauptteil-Epilog ist, sondern sich die Dinge nur in der Zeitlichkeit unterscheiden, dass ich morgen noch der selbe wie heute sein werde. Dass uns die großen Fragen in einer entzauberten Welt auch nach Jahren nicht in Frieden lassen.

Anspieltipp: „Microphones in 2020

Do Nothing – Zero Dollar Bill

Zyniker würden sagen, die britische Band Do Nothing wäre ohne die Vorkommnisse von 2020 in der Bedeutungslosigkeit geblieben. Vorher hätte wohl niemand erwartet, dass Nichtstun derart sexy und geradezu zum Imperativ unserer sonst auf Steigerung und Beschleunigung gerichteten Welt werden könnte. Seis drum, ich kann mit Stolz behaupten, die Band noch in ihren Kinderschuhen auf dem Reeperbahnfestival erstmalig gehört zu haben, wo sie sich auch nicht zu wichtig nahmen, offen zugeben zu können, dass es „so close“ war, dass sie beinahe gar nicht dort gelandet wurden.

Schon dort war die Bühnenpräsenz stark von Sänger Chis Bailey geprägt, der in Sachen Outfit und Posing Alex Turner durchaus Konkurrenz macht. Aber wenn das nicht schon genug wäre, brilliert er mit einer ungewohnten Stimmgewalt, die über weite Teile mehr Spoken-Word als Gesang ist, aber von einer teils mafiösen Aussprache geprägt ist und dabei regelmäßig in unerwartete Ausbrüche abdriftet. Inhaltlich wirkt alles mehr nach stream of consciousness und so manch eine Zeile wirkt bei näherem Hinschauen noch viel zusammenhangsloser als bei bloßem Hören.

In Sachen Instrumentarium ist die vier-köpfige Band recht klassisch aufgestellt: 1x Schlagzeug, 1x Bass, 1x Gitarre. Die Songs sind (nicht nur auf der EP) sehr gekonnt aufgebaut, als wäre Songwriting für eine Newcomerband eine selbstverständliche Sache. Zwar halten sich die Strukturen in Länge (selten mehr als 4 Minuten) und Aufbau (Verse-Verse-Pre-Chorus-Chorus-usw.) vielfach an Konventionen, aber der tanzbare Post-Something wird so manch einen Rock-Veteranen wieder ins Boot holen. Verwunderlich ist es nicht, dass bislang eigentlich jede Person, der ich die Band gezeigt hab, jubilierend „Do Nothing“ geschrien hat, während die Bundesregierung applaudiert.

Anspieltips: „LeBron James“ & „New Life

Sprain – As Lost Through Collision

Auf ihrer zwei Jahre zuvor erschienenen selbstbetitelten EP war das kalifornische Quartett Sprain noch sehr den fürs Slowcore-Genre stilprägenden, verschlafenen und gemächlich vor sich hin stampfenden Melodien verpflichtet, auch trotz teils widersprüchlicher Songtitel („True Norwegian Black Metal“). Zwar gab es etwa in „Deliver us“ an Codeine erinnernden kontrastierenden Gitarrenlärm, doch in ihrem im September erschienenen Debüt-Album As Lost Through Collision hat die Band, die zwischenzeitlich beim eher für abgründigere Musik stehenden Label The Flenser unter Vertrag steht, einen recht gewaltigen Quantensprung hingelegt, auch in puncto Lautstärke. Nicht verwunderlich, dass sie vorwiegend mit Post-Hardcore Bands der 90er Jahre, wie Slint, Unwound oder Jawbreaker in Verbindung gebracht werden. Alles eine Frage des Platzes, wie die Band im Hinblick auf ihre gewachsenen Räumlichkeiten preisgab. Wie bei einem Buch der erste und der letzte Satz von nicht geringer Bedeutung sind, kann man dies mit Fug und Recht auch für die ersten und letzten Sekunden eines Album behaupten. Denn schon hier wird der Kontrast zur Vorgänger-EP offenbar: Gitarren und Schlagzeug, die sich in Unwound’scher Manier diskontinuierlich abwechseln, vorpreschen, um dann doch in letzter Sekunde in sanftere Gefilde zu flüchten. In „My Way Out“ geht es slower als slow zu, Sänger Alex Kint säuselt unverständlich, geradezu weinerlich, von subtilstem Instrumentarium begleitet bis es nach einigen Momenten aus „heiterem“ Himmel wieder über einen hereinbricht. So oder so ähnlich geht es vielfach zu: Dissonanzen paaren sich mit schweren Basslines, gehen auseinander, plötzlich schreit jemand und dann wird es unerhört still und kontemplativ. Nur um im nächsten Moment wieder aus dem Hinterhalt die letzten Trommelfellreste zu beseitigen. Ein wahrhaftes Schmackerl für Freundinnen und Freunde des gepflegten Draufhauens.

Anspieltips: „Worship House“ & „Everything

Szymon Chrost

Jessie Ware – What’s Your Pleasure

Irgendwann habe ich den Überblick über Jessie Wares neue Produktionen verloren. Sie waren sehr statisch, langweilig, ich konnte ein Album nicht vom anderen unterscheiden. Es gab nichts Aufregendes an ihrer Musik, bis sie ihr neuestes Album What’s Your Pleasure vorstellte, das das komplette Gegenteil zu ihren vergangenen Produktionen ist. Die Songs sind aufregend, sie sind glamourös, sie sind verführerisch. Das ganze Album klingt wie aus einem Saturday Night Fever Soundtrack – es strahlt das Gefühl einer funkelnden Discokugel in einem nebligen Club aus, eine Art Luxus, der jeden Song zu etwas ganz Besonderem macht.
Jessie Ware hat auf What’s Your Pleasure einen Schritt aus ihrer Komfortzone gemacht, das ist das Statement des Albums. Wenn ich es mir anhöre, erinnert es mich an ihre ersten Features mit Künstlern aus der elektronischen Musikszene wie Disclosure, SBTRKT oder Sampha, wo sie die gleiche (hohe) Menge an guter Energie und Flow hatte. Ich kann nicht aufhören, zu diesem Album zu tanzen. It’s my pleasure.

Anspieltips: „Step Into My Life“ & „Remember Where You Are

Gorillaz – Song Machine, Season One: Strange Timez

Ich war wirklich traurig über die Tatsache, dass die meisten Musikfestivals in diesem Jahr abgesagt wurden, aber wer braucht das schon, wenn man sich einfach das neueste Album der Gorillaz anhören kann. Die Anzahl und Qualität der Gäste auf diesem Album könnte so manches Festival erfüllen.
Kohärenz war noch nie wirklich ein Markenzeichen der Gorillaz-Ästhetik. Selbst der Kopf der Band, Damon Albarn, kann die Musik der Gorillaz nicht definieren. Aber das ist nun mal auch das Besondere an den Gorillaz. Albarn lässt sich immer wieder neue kreative Ideen einfallen, wie er das Potenzial seiner Gäste nutzen kann. Mehrere Momente bieten interessante, generationenübergreifende Riffs auf die Musikgeschichte. Auf “Momentary Bliss” zollt der Rapper Slowthai den Specials Tribut, “Opium” ist ein Symbol des Acid-House der Achtziger und “Aries” ist eine perfekte New-Order-Hommage, bei der Peter Hook von New Order am Bass zu hören ist. Und das ist noch nicht alles! Die erste Episode der Staffel eröffnet mit “Strange Timez” mit Robert Smith, in der er sich wundert, dass sich die Welt immer noch dreht, Schoolboy Q vergleicht auf “Pac-Man” das Leben mit dem Spiel (“I’m a mad Pac-Man/ Livin’ in a leveled world”) und dann gibt es auch noch einen berührenden und gefühlvollen Track “Désolé” mit Fatoumata Diawara.
Natürlich kann man nun entgegnen, dass das ganze Album aufgrund dieser Beschreibung sehr chaotisch klingt, aber das ist das Schöne daran. Es ist eine LP, die aus einem Hit nach dem nächsten besteht. Es gibt keinen Grund, etwas zu definieren, wenn das musikalische Ergebnis so spaßig ist.

Anspieltips: „Opium“ & „Désolé

Sevdaliza – Shabrang

Die im Iran geborene Sevda Alizadeh ist bekannt für ihre dunkle, ernste elektronische Musik mit viel Emotion, Gefühl und Empathie. Nach drei Jahren hat Sevdaliza ein Album veröffentlicht, das ihre sinnlichen Melodien zugunsten eines rohen, bescheidenen Klangs verbannt, der mit dem Schmerz gefüllt ist, den man schon auf dem Cover des Albums erkennen kann.
Während des gesamten Albums bewegt sich Sevdaliza anmutig zwischen verschiedenen Musikstilen: von Art-Pop bis Trip-Hop oder sogar traditionellen persischen Einflüssen, die ihr Erbe feiern. Klassische und orchestrale Einflüsse durchdringen das gesamte Album, wobei das Klavier neben Sevdalizas unverwechselbarer Stimme die Hauptrolle spielt. Wenn ich ihr zuhöre, habe ich das Gefühl, dass kein einziger Ton, der von ihr kommt, durch Zufall entstanden ist. Lyrik, Intonation, Lautstärke – hinter all diesen Dingen verbergen sich tiefe Gedanken, die auf viele verschiedene Arten interpretiert werden können.
In Sevdalizas Augen sind das Gute und das Böse voneinander abhängig, sie leben in einer Symbiose zusammen. Hier ist nichts offensichtlich – Unschuld verwandelt sich unmerklich in Schuld. Auf Shabrang versucht Sevdaliza, ihre dunkle Seite zu erforschen und gleichzeitig auch zu entdecken, wozu wir fähig sind, um der Dunkelheit des Schattens unserer Seele, die uns früher oder später einholen wird, um jeden Preis zu entkommen.

Anspieltips: „Darkest Hour“ & „Shabrang

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Alma Dinnebier

Taylor Swift – Folklore

Taylor Swift ist eigentlich bekannt dafür, dass sie ihre ‚Äras’ sehr genau durchplant und einen großen Aufwand betreibt, die Ästhetik jedes neuen Albums zu perfektionieren. Deshalb war es eine doppelt große Überraschung, als sie dieses Jahr gleich zwei Mal neue Alben herausbrachte, die nur wenige Stunden vorher angekündigt wurde. Die Sängerin sagt selbst, dass sie das nicht geplant hatte, in der Isolation aber nicht aufhören konnte, zu schreiben.

Taylor Swift war schon immer gut darin, in ihren Liedern Geschichten zu erzählen, bisher immer ihre eigene. Dieses Album jedoch erzählt verschiedenste Geschichten, durch die Augen von verschiedensten Personen. Mit einem weniger polierten und ruhigeren Sound schafft Taylor Swift eine verletzliche und beinahe märchenhafte Atmosphäre, die diese zum Leben erweckt. Die Musik ist weniger poppig als auf den letzten Alben und man hört zum ersten Mal seit langem wieder ihre Wurzeln in der Countrymusik. Taylor Swift war noch nie eine herausragende Sängerin, das hat sich auch in diesem Album nicht geändert, aber ihr Songwriting ist so gut wie nie.
Für mich war das Album der perfekte Soundtrack in der Isolation, der eine andere Welt erschafft, in die man sich flüchten kann. Im Dezember kam dann ebenso Folklores Schwesternalbum heraus: Evermore. Im Stil dem ersten sehr ähnlich kann ich euch auch dieses Album nur ans Herz legen.

Anspieltips: „betty“ & „illicit affairs

All Them Witches – Nothing As The Ideal

Ich hatte bis zu diesem Herbst noch nie von der Band All them Witches gehört. Und eigentlich ist Psychedelic Rock auch gar nicht meine Musikrichtung. Aber als ich ihr neues Album Nothing As The Ideal gehört hatte war ich sofort begeistert. Mal laut, mal leise, arbeitet sich die Band durch die verschiedensten Arten von Rock, unterbrochen von ruhigen Instrumentals und Momenten, in denen nur White Noise oder Hintergrundgeräusche zu hören sind. Die acht Songs des Albums sind abwechslungsreich und interessant, ohne anstrengend zu werden. Besonders der letzte Song des Albums „Rats in Ruin“ lief bei mir des Öfteren auf Dauerschleife. Es ist für mich die perfekte Mischung aus entspannt und kraftvoll und passt perfekt zu dunklen Herbstabenden.

Anspieltips: „Enemy Of My Enemy“ & „Rats In Ruin

Hayley Williams – Petals for Armor

Die Band Paramore war für meine Teenagerzeit sehr wichtig und hat für immer einen besonderen Platz in meinem Herzen. Deshalb war meine Freude groß, als Hayley Williams, die Frontsängerin der Band, im Mai ihr erstes Soloalbum veröffentlichte. Das Projekt, das als eine Art Therapiemaßnahme startete, hat sich zu einem Album voller brutaler Ehrlichkeit entwickelt. In fünfzehn Songs verarbeitet die Sängerin Trauma, Depressionen und vergangene Beziehungen und erschafft sich selbst dabei eine neue Art der Weiblichkeit. Die Musik ist experimenteller und weniger upbeat als das letzte Paramore Album After Laughter, in dem ebenfalls schon Depressionen thematisiert wurden. Petals for Armor ist ruhiger und dunkler und probiert viel verschiedenes aus. Aber Hayley Williams, die für ihre Vocals bekannt ist, zeigt auch hier wieder, was sie drauf hat.
Ich habe das Album durch und durch gerne gehört und kann es nur empfehlen (außer ihr habt es nicht so mit Blumen-Metaphern).

Anspieltips: „Simmer“ & „Dead Horse

Annie Vandalewsky

Palaye Royale – The Bastards

Zwischen Philosophie und Aggression. Das im Mai 2020 erschienene Album The Bastards ist das mittlerweile dritte Album der Rockband Palaye Royal. Die drei Mitglieder der Band aus Las Vegas bezeichnen sich als hotteste Band 2018 und als Adrenalinkick für die Musiklandschaft. Sie punkten dabei mit Glam- und Fashion-Rockelementen. Gekleidet wie Punk-Soldaten veranstalten sie Touren wie Zirkusshows, künstlerisch und theatralisch. Frontmann Remington Leith erklärt auf der Band-Website, dass jedes Mitglied eine Rolle habe: der Pirat, der Vampir und der Gentleman. Vergleichen kann man Palaye Royale mit My Chemical Romance, Twenty One Pilots oder auch den frühen Arctic Monkeys. Ihr Album The Bastards ist ein spannender Genre-Mix, der von Wahrheit, Isolation und Aggression erzählt. Den Auftakt zum Album bildet dabei die Single „Little Bastard“. Sie gibt einen Einblick in die Stimmung und Themen des ganzen Albums. Das Gegenstück zu „Little Bastard“ ist die Single „Lonely“. Hier geht es um Frustration und den Ärger unerwiderter Freundschaften.
Laut Leith passe The Bastards auch sehr gut in dieses verrückte Jahr 2020, denn auch in der Isolation fände die toxische Gesellschaft ihren Weg ins Haus, da müsse man zusammenhalten.

Anspieltips: „Lonely“ & „Little Bastards

KYTES – Good Luck

Das Feel-Good Album für 2020. Good Luck ist der zweite Langspieler der 2015 in München gegründeten Indie Band KYTES. Mit poppigen Synthie-Sounds erzählen KYTES Geschichten und Gefühle des Alltags. Die vier Schulfreunde veröffentlichten 2016 ihr erstes Album Heads and Tales und gewannen den Music Award als beste Nachwuchsband. Letztes Jahr gründeten sie ihr eigenes Lable „Frisbee Records“. Ihre Musik und ihres Videos erinnern an Bands wie Phoenix oder Two Door Cinema Club. Dabei machen sie mit 80er-Jahre-Vibes Lust auf Sommer und Tanzen. Ihre Musik wird von einer kontinuierlichen Aufbruchsstimmung getragen. Geprägt von Mut und Freiheit und ein wenig Sorge vor dem Ungewissen bietet Good Luck das perfekte Dauerschleifen-Album. Neben den Feel-Good-Songs haben es auch ein paar ruhigere Lieder auf das Album geschafft. Mit dem Titel des Albums möchte die Band ihren Songs und den Zuhörer·innen viel Glück wünschen. Auch in der Pandemie sieht die Band ihre eigene Aufbruchsstimmung nicht unterbrochen, sondern nutzt die Zeit um ihren Proberaum zum Studio umzubauen und neue Songs zu produzieren. Good Luck ist bestimmt nicht das Letze, was wir von KYTES hören werden und vorerst der perfekte Stimmungsbringer.

Anspieltips: „Alright“ & „Go Out

Dua Lipa- Future Nostalgia

Das Pop-Album des Jahres 2020. Die britische Sängerin Dua Lipa hat sich mit ihrem Album Future Nostalgia in die Topplayer der aktuellen Musikszene gesungen. Ihr bereits im letztes Jahr im Oktoberveröffentlichter Hit „Don´t Start Now“ ist einer der erfolgreichsten Songs des Jahres 2020, Dua Lipa aus den Charts nicht mehr wegzudenken. Future Nostalgia wird seinem Namen mit Disco- und Dance-Pop-Elementen vollkommen gerecht. Dua Lipa überzeugt mit zeitloser, energiegeladener Tanzmusik mit Ohrwurmpotential. Die 25-jährige begann mit Covern von Bob Dylan oder David Bowie auf Soundcloud und wurde 2015 entdeckt. Zwei Jahre später erschien ihr erstes, nach sich selbst benanntes, Album. Ihre Musik bezeichnet sie selbst als „Dark-Pop“. Mit ihren Songs gewinnt Lipa zahlreiche Preise, so ist Future Nostalgia ist unteranderem als Album des Jahres bei den Grammy Awards nominiert. In diesem Jahr war sie unteranderem im Feature mit Miley Cirus in dem Song „Prisoner“ zu hören. Sie ist eine unabhängige, selbstbewusste Power-Frau, die die Popwelt gerade mit ihrer unaufhaltsamen Energie für sich einnimmt. Future Nostalgia bietet einen bunten abwechslungsreichen Mix, der zum Tanzen und Gutfühlen einlädt und bestimmt nicht enttäuscht.

Anspieltips: „Break My Heart“ & „Levitating

Anton Schroeder

clipping. – Visions Of Bodies Being Burned

Wo soll man in der heutigen Popmusik noch nach Innovationen suchen? Die Rockmusik scheint bis auf einzelne Ausreißer auserzählt, währenddessen scheint es im Popgenre jedes Jahr ein neues großes Revival zu geben (so war 2020 mit Releases von Róisín Murphy, Jessie Ware und Kylie Minogue wohl das große Jahr der Discomusik). Sonderlich progressiv ist Weniges.
Doch die Antwort auf die Eingangsfrage ist nicht sonderlich schwierig: im Hip-Hop. Und zwar weder im chartdominanten Shishabar-Party-HipHop, der sich in den letzten Jahren so stark auf den Pop, teilweise gar auf den Schlager zubewegt hat, noch im traditionellen Oldschoolbereich des Genres, wo die Hosen noch immer weit und die Reimketten möglichst lang sein müssen – nein, die Innovationen findet man am expermientellen Rand des Genres, dessen Berührungspunkte häufig in den Sphären von Industrial oder IDM liegen. Neben Akteuren wie Death Grips oder JPEGMafia hat sich hier in den letzten Jahren vor allem ein Name ins Rampenlicht gespielt: das Trio clipping. aus L.A. macht Kunst zwischen Avantgarde, Versuchsaufbau und Konzeptmusik – ihr neues Album stellt da keine Ausnahme dar.
Visions of Bodies Being Burned ist, wie auch schon der Vorgänger There Existed An Addiction To Blood, eine musikalische Annäherung an den Horrorfilm, und das hört man auch. Die Instrumentals, welche größtenteils aus virtuos zusammengesetzen Sounds des Horrorsounddesigns bestehen (hämmern, schreien, quietschen) entfalten ihre Genialität vielerorts vor allem durch ihren Kontrast zwischen an Noise-Musik erinnernder Brachialität und punktuell gesetzten Momenten absoluter Stille. Die spannendsten Momente in Horrorfilmen sind schließlich nicht immer die lauten.
Dazu kommen Rapper Daveed Diggs klaustrophobische Rap-Ergüsse, die immer so klingen, als würde er gerade einem zukünftigen Mordopfer hinterherhetzen.
Diese beiden Komponenten sorgen für eine der überraschendsten und intensivsten Albumerfahrungen dieses Jahres, auch wenn man sich wie am Ende eines guten Horrorfilms leicht erschöpft freut, wenn das abschließende Yoko Ono Cover „Secret Piece“ erklingt und vor dem geistigen Auge die Credits zu rollen beginnen.

Anspieltips: „Looking Like Meat“ & „Enlacing

Fiona Apple- Fetch The Bolt Cutters

Fiona Apples Fetch The Bolt Cutters ist in puncto Album des Jahres 2020 wohl so etwas wie der „elephant in the room“ – kaum eine Platte der letzten Jahren wurde von Kritiker·innen derart einstimmig in den Himmel gelobt. Die Website albumoftheyear.org zählt sage und schreibe achtzehn Musikjournalien, die Fetch The Bolt Cutters dieses Jahr als Projekt des Jahres gekürt haben, darunter Größen wie The Guardian oder Pitchfork.

Und was soll man sagen? Es ist eben auch ein fantastisches Album! Man muss es ganz klar benennen: Fiona Apple gelingt auf ihrer fünften LP tatsächlich so etwas wie eine kleine Revolution der Singer-Songwriter Musik, indem sie eine radikale Abwendung vom Hübschen, vom „liederhaften“ Klischee der hübschen Frau an der Gitarre, gar von der Melodie überhaupt zelebriert und den Weg frei macht für das fast reine Rhythmische, das hier klar im Vordergrund steht – eigentliche Melodieinstrumente wie das Klavier scheinen hier vor allem dazu zu dienen, auf ihnen herumzuschlagen. So entsteht ein Klangbild, das vollkommen einzigartig klingt. Eine Mischung aus Singer-Songwriter-Folk, Funk, Jazz, Percussionmusik und nicht zuletzt Rap, denn auch Apples Gesang hat über weite Strecken des Albums nicht mehr viel vom Melodiösen – polternd und kratzend peitscht Apple ihre Textzeilen förmlich auf die hermetischen Klangpattern.

„Well, good morning, good morning / You raped me in the same bed your daughter was born in“

Und auch lyrisch ist Fetch The Bolt Cutters ein außergewöhnliches Album. Der Titel, auf Deutsch so viel wie „Holt die Bolzenschneider“, deutet bereits an: hier wird abgerechnet. Mit den Dämonen im eigenen Kopf, patriarchalen Figuren sowie Bedingungen, psychischem und physischem Missbrauch, ungesunden Beziehungen, fehlender Solidarität unter Frauen und, und, und. So wird jeder Song zum Bolzenschneider, mit jeder Textzeile der rilkesche Käfig ein Stück weiter aufgebrochen.

Ein herausragendes Album, ein atemberaubender Befreiungsschlag.

Anspieltips: „I Want You To Love Me“ & „Under The Table

Baxter Dury- The Night Chancers

Gegen Ende von Michael Scorseses Film Wie ein wilder Stier aus dem Jahr 1980 gibt es eine Szene, an die ich bei Baxter Durys Musik oft denken muss. Die Karriere von Boxer Jake LaMotta (Robert DeNiro) ist vorbei, inzwischen besitzt er einen Nachtclub, in dem er selbst als Stand Up Comedian auftritt. Seine Jugendlichkeit hat LaMotta längst eingebüßt, das Gesicht ist gezeichnet von den vielen Kämpfen, der Körper aufgequollen, im weißen Anzug wirkt er etwas verloren, wie er da auf der Bühne steht und dreckige Witzchen reißt. Dennoch dominiert LaMotta die Bühne wie zuvor den Boxring, das Publikum johlt. Zum Abschluss seines Auftritts fangen die Musiker hinter ihm an zu spielen und der einstige Boxer sagt ein Gedicht auf.
Eine ähnliche Rolle nimmt Baxter Dury auf seinen Alben ein: ein in die Jahre gekommener Showman, der sich in der Gegenwart nicht so ganz zurechtzufinden weiß, voller Nostalgie und immer ein wenig gequält, aber voller Galgenhumor ob der eigenen Unzulänglichkeiten.
Auf The Night Chancers, Durys neuestem Album, bleibt er seinem etablierten Stil treu: smoothe Basslines dominieren das Klangbild, die ebenfalls stets prägnanten Synthesizerklängen klingen immer schmerzlich klagend – und dann fängt der Sohn von Protopunk-Größe Ian Dury mit dickem Cockney-Dialekt und latent schlechter Laune an, zu erzählen. Vom alltäglichen Wahnsinn, der genauso alltäglichen Tristesse, modernen Männern mit Designerfrisuren und der Sehnsucht nach Liebe. Die Atmosphäre, die aus diesem Zusammenspiel erwächst, scheint sich aus einer anderen Zeit in die Gegenwart zu lehnen, sie beschwört eine Unterwelt der schäbigen Typen mit krummen Geschichten herauf, eine Welt klebriger Pornokinos und filterloser Zigaretten. Aber unter all dem Weltschmerz und Zynismus versteckt sich dann doch eine schwermütige Herzlichkeit, die immer wieder an die Oberfläche der Dury-Songs schwappt. Selten hat die Gegenüberstellung der ersten und letzten Zeile eines Albums so viel ausgesagt: aus „I’m not your fucking friend“ wird „Baxter loves you“.

Anspieltips: „Slumlord“ & „Carla’s Got A Boyfriend

Benedikt Hölzel

Culk – “Zerstreuen Über Euch”

Gute Songs machen ein gutes Album, oder? Das scheint eine recht einfache Antwort. Soll es damit getan sein, dass man einfach nur richtig viele Banger auf eine Platte presst und dann ein Album hat, was Geschichte schreiben darf? Irgendwie sollte das nicht mehr reichen dürfen. Es ist das Jahr 2020 und inzwischen liegt eine Vielzahl an unglaublich unangenehmen Vorfällen hinter uns. Dabei will ich gar nicht auf ein gewisses Virus hinaus – mir geht es an dieser Stelle um die Vielzahl von unsäglichen Vorfällen, welche die #MeToo-Bewegung zum Vorschein gebracht hat. In diesem Zusammenhang ist die Musikindustrie nicht gut weggekommen und die eigenen Musiksammlungen wurden einer Untersuchung auf Hörbarkeit unterzogen. Unglaublich frustriert musste auch ich einige grandiose Alben aussortieren, die ich nicht mehr in meinem Regal sehen wollte. Genau hier erscheint die Wiener Band Culk mit ihrem Album Zerstreuen Über Euch. Diese Postpunk-Band mit Sophie Löw als Frontsängerin legt es darauf an, die Lücken in den Musiksammlungen zu füllen. Mit ihren Texten, die sich besonders mit der Komplexität des modernen Lebens beschäftigen, hebt sie sich von ihren männlichen, österreichischen Kollegen ab. Hier wird sich nicht auf den österreichischen Dialekt als ironisches Mittel der Postmoderne verlassen. In unfassbarer Intimität werden Geschichten der Frau des 21. Jahrhunderts erzählt. Eine wort- und musikgewaltige Kampfansage an das Patriarchat. Ein Album, welches in mir genau die richtige Zielgruppe trifft: Den weißen Mann in den „Ruinen“ seiner alten Ordnung: „Denn wer du mal warst bist du schon lange nicht mehr“. Einfach ein Album, auf das man sich verlassen kann. Meine absolute Nummer eins.

Anspieltips: „Ruinen“ & „Nacht

Acht Eimer Hühnerherzen- “album”

Die Musik von Acht Eimer Hühnerherzen kann man wohl kaum besser beschreiben als mit „Powerviolence-Folk, Kakophonie und Bindungsangst“. Diesen kleinen Diebstahl einer Selbstbeschreibung kann ich nur damit entschuldigen, dass es so verdammt gut passt. Der gesamte Stil der Band zeigt sich komprimiert in „Somnambulismus“. Das Album wird durch diesen Song direkt mit der kompletten Zerrissenheit dieses Jahres eingeleitet. Irgendwo im Spannungsfeld zwischen fröhlichem Mitwippen und kompletter Lethargie. „Mir ist zu weit in dieser Enge und zu weit in diesem Raum“, singt die Sängerin Apocalypse Vega. Alles begleitet von unschuldig daherkommenden Gitarren. Es ist fast, als hätten sie einer hedonistischen Generation, die ihrem Hedonismus beraubt wurde, eine Hymne geschrieben. Dabei kann man auch nie genau sagen, ob sie dieser Kultur kritisch oder begrüßend gegenüberstehen. Ich kann es kaum anders sagen, aber so sehr habe ich mich selten mit einer Band identifiziert. Ein vergleichbares Gefühl hatte ich vielleicht mit den ersten Alben von Schnipo Schranke, aber das ist auch schon wieder verdammt lange her. Mit dem Album „album“ liefert Acht Eimer Hühnerherzen ein modernes Stück punklastiger Generationsgeschichte.

Anspieltips: „Somnambulismus“ & „Immer Schlimmer

Aidan Knight- Aidan Knight

Selbstbewusst hat der Folksänger Aiden Night dieses Album nach sich benannt, doch es ist nicht Narzissmus, der aus dieser Entscheidung spricht. Aiden Night ist eher eine verblüffend ehrliche Auseinandersetzung des Künstlers mit sich selbst. Irgendwo zwischen Selbstfindung und Selbsteingeständnis bewegen sich die Texte des Kanadiers. Für ihn steht emotionale Authentizität im Vordergrund. Dabei geht er so weit, dass für ihn ein Song erst gut ist, wenn er sich beim Singen verletzlich fühlt. In diesem Zusammenhang stehen auch die Thematiken des Albums. Als bestes Beispiel für die ungefärbte Ehrlichkeit findet man auf der Platte den Song „Rolodex“. Hier verhandelt er die Angst vor Trennung und die Selbstzweifel des Vaterseins. Genau diese Themen sind es, die dieses Album zu etwas besonderem machen. Alles gepaart mit einer Sprache, die seine Verletzlichkeit unverblümt darstellt. Aiden Knight lädt mit offenen Armen dazu ein, ihn in seine Gedankenwelt zu begleiten, doch in dieser dreht es sich nicht nur um ihn selbst. Der Song „Veni Vidi Vici“ kennzeichnet ihn als ungeheuren Empathen. Es ist ein Song, in dem er die Ausgrenzung von Trans*personen thematisiert. Besonders zu schätzen ist dabei die subtile Poesie seiner Arbeiten. Große Empfehlung. Super Typ, super Album!

Anspieltips: „Rolodex“ & „Veni Vidi Vici

Charlotta Westphal

Phoebe Bridgers – Punisher

Phoebe Bridgers – ein Name für sich (und für den deutschsprachigen Raum sicherlich auch schwer korrekt auszusprechen) hinterlässt auch in diesem Jahr bei mir wieder mal einen bleibenden Eindruck. Ihr erstes Soloalbum Stranger In The Alps von 2018 sollte eigentlich mein Soundtrack für dieses verworrene und total verrückte Jahr 2020 werden. Doch am 18. Juni veröffentlichte die 25-jährige Künstlerin dann ihr zweites Studioalbum Punisher und schon wendete sich dieser Gedanke. Die hauchzarte und doch so klare und starke Stimme von Phoebe Bridgers überrennt und streichelt einen gleichermaßen beim Hören. In dieser ganzen Zeit der Isolation, Unsicherheit und Überforderung nimmt sie einen an die Hand oder lässt einen in der Traurigkeit der eigenen Melancholie versinken. Punisher brachte Bridgers vier Grammy-Nominierungen ein und bewegt sich, betitelt als „Indie-Rock“ oder „Emo-Folk“, in ihrer eigens kreierten atmosphärisch-melancholischen Welt. Zwischen so manch kryptischen Texten verbirgt sich oftmals eine Note der Selbstreflexion und Autobiografie. So singt sie beispielsweise in “Kyoto” über ihren Vater:

„You called me from a payphone (…) / To tell me you’re getting sober / And you wrote me a letter / But I don’t have to read it / I’m gonna kill you / If you don’t beat me to it”.

Phoebe Bridgers kehrt in diesem Album ihr Innerstes ganz unaufdringlich und unterschwellig nach außen. Sie ist Meisterin darin, ihre eigenen Emotionen gleichzeitig so klar anzusprechen und trotzdem durch kleine Details und Phrasen diese Unsicherheit und Verletzlichkeit so zu relativieren, dass von Kitsch und Selbstmitleid keine Rede sein kann.

„But now I am dreaming / And you’re singing at my birthday / And I’ve never seen you smiling so big / It’s nautical themed”

Auf Punisher wird man in den Arm genommen, von dem man gar nicht wusste, dass man ihn braucht. Besonders in diesem Jahr, welches an unser aller Kräfte so dermaßen gezerrt hat und in dem wir nun im Dezember die ausgezehrten Hüllen unserer selbst sind, bietet es einen Fluchtpunkt zum Weinen und Loslassen von all dem Druck und der Angst.
Den krönenden Abschluss dieses emotionalen und Seele-streichelnden Albums widmet Phoebe dem Ende der Welt.

„The billboard said “The End Is Near” / I turned around, there was nothing there / Yeah, I guess the end is here”.

Die eigene Machtlosigkeit über das Geschehen auf der Welt lässt auch mich in diesen Tagen nicht los und gerade deshalb fühlt sich „I Know The End“ so richtig an. Ein Schrei beendet nach über 5 Minuten das instrumentale Spektakel des Weltendes und somit das Album. Ein Schrei, den auch ich in mir spüren kann, für den ich selbst allerdings keine Stimme mehr habe. Denn eine der Stärken des Albums ist es, genau das auszusprechen, wofür man selbst keine Sprache mehr hat und was man sich nicht traut zu fühlen.

Anspieltips: „Kyoto“ & „I Know The End

Slow Kill- Dead Kids R.I.P. City

Die Post-Punk Band Soft Kill veröffentlichte zum Ende des Jahres am 20. November ihr neues Album Dead Kids R.I.P. City und brachte somit die Dunkelheit des Novembers noch mehr zum Strahlen. Die dynamische Stärke des Albums macht es in meinen Augen zu einem der besonderen Musikschätze dieses Jahres und überzeugt vor allem durch den abgerundeten atmosphärisch vollen Sound. Die Stimme von Sänger Tobias Grave brennt sich dabei ins Gehirn und bleibt dort als unvergessliches Hörerlebnis zurück. Auch wenn einige der Lieder einen fröhlichen und tanzbaren Grundsound anschlagen, ist mir beim Hören jedoch nicht wirklich nach tanzen zumute gewesen. Die düstere, harmonisch bedrohliche Atmosphäre ist schwer in Worte zu fassen und belegt alles mit einem dumpfen Schleier an Dunkelheit und Schwere. Zusammengebaut aus einprägsamen Synthies, klaren Gitarrenriffs und vollmundigen Basslines baut Soft Kill einen ganz eigenen Sound, der sich gemischt mit Tobias Graves Stimme zwischen leuchtender Schönheit und tiefem Abgrund einpegelt. Kollaborationen mit Künstler·innen, wie beispielsweise Tamaryn im Song „Floodgate“, heben die Vielseitigkeit des Albums an und gliedern sich trotzdem federleicht ins Gesamtgerüst ein. Textlich sind die meisten Songs sehr minimalistisch, irgendwie hypnotisch gehalten und beschreiben in einigen Teilen die betrauernde Beziehung der Band zu ihrer Heimat Portland. Die Veränderung der Stadt brachte viele Verluste mit sich, denen sich die Band nun mit diesem Album widmet.

„This is our world / What are you waiting for? / I spent a day watching / I guess I was just wanting war”

Besonders hervorheben möchte ich den Song „Oil Burner“, der sich für mich in seinem Klang (und auch durch eine Länge von über 8 Minuten) vom Rest des Albums abhebt. Eine Gitarre, die im Kopf nachhallt und eine vertraute und doch traurige Umgebung schafft, leitet den Song ein.

„The man I met at Hooper / Had a noose around his neck / He was fed up / Before the drugs had took him / He was not afraid of death”

Ganz langsam und gefühlvoll wird man reingezogen in den dunklen Abgrund. Und dann scheint im Refrain Tobias Graves Stimme nahezu im Klang der Gitarren zu ertrinken.

„The day I left Milam / Had a leash around my neck / No longer fed up / Before the doors had opened / Laid tangled by a death”

Ein Lied, welches sich all die Zeit nimmt, die es braucht, um seine eigene Geschichte zu erzählen.
Die eigenartige und doch schöne poetische Weise, in der Soft Kill Geschichten erzählt, berührt mich jedes Mal auf eine andere Art und Weise und schafft es Emotionalität in den dunkelsten Ecken des Kopfes anzuregen.

Anspieltips: „Roses All Around“ & „Oil Burner

Slow Pulp- Moveys

Das selbst produzierte Debut-Album Moveys der Band Slow Pulp war eine der positiven Überraschungen, das dieses Jahr mit sich brachte. Bestehend aus Alexander Leeds, Emily Massey, Theodore Mathews und Henry Stoehr nahm die Indie-Rock Band Anfang des Jahres ihr erstes Album auf. Obwohl der Aufnahmeprozess erst durch einen schweren Autounfall von Masseys Eltern und dann durch die Corona-Pandemie unterbrochen und erschwert wurde, ist das, was seit dem 9. November nun in 10 Songs zu hören ist, ein absolut spannendes und hochwertiges Hörerlebnis geworden. Wie die letzte goldene Sonne im Herbst strahlt es Ruhe und Wärme aus und lässt einen tief in die emotionale Selbstfindung der Bandmitglieder eintauchen.

“If I could treat myself better / I know I’m still getting better”

So wird man auf die Suche nach sich selbst geschickt und wächst von Lied zu Lied gemeinsam weiter mit Slow Pulp. Die Gitarren erinnern an manchen Stellen evtl. an den Sound von Soccer Mommy, doch die elfengleich hauchende Stimme von Emily Massey verleiht jedem Song ein ganz eigenes federleichtes Gefühl. Mit ihren Texten setzen sie dort an, wo man selbst manchmal lieber aufhört weiterzudenken, aus Angst sich selbst zu verletzen.

“Why don’t you go back / To falling apart / You were so good at that / You’re one in a million now / You don’t want to take the time /You just need to seem alright”

Im Laufe des Albums spitzt sich die Emotionalität und Härte der Selbstreflexion immer mehr zu, denn selbst wenn manchmal alles gut ist, bleibt doch immer die Angst vor dem nächsten Tief, dem nächsten Rückschlag und der nächsten harten Zeit.

“I’m a bad mess / I’m a loner with no plans / Go back home / Try again / And again
I’m a contest / I’m a loser with no chance // Hold my hand / Again / And Again”

Immer klarer wird die Grundaussage des Albums – sich hinterfragen, finden, um Hilfe bitten – und schließlich endet die Reise mit der Befreiung von den eigenen Lasten.

“I said move it / Get outta here”

Voller Energie verabschiedet sich Slow Pulp mit einer Aufforderung zum Abschließen, Aufstehen und Weitermachen, auch nach einem schweren Jahr wie diesem!

Anspieltips: „Idaho“ & „Channel 2

Fabian Borrmann

City Morgue – Toxic Boogaloo

Die Sprechgesangsartisten Zillakami und Sos Mula haben sich vor drei Jahren zum Kollektiv City Morgue zusammengefunden und bringen seitdem harte Texte auf dreckigen Trap Beats. Klingt jetzt erstmal nicht besonders, man merkt jedoch beim Hören schnell die ungewohnte Brutalität des Sounds und die Parallelen zum Metal. Dabei erinnert die Musik kein bisschen an den Nu-Metal der 2000er sondern eher an Untergrund Trap auf Anabolika. Die Texte werden mit raspeliger Stimme in das Mikro geschrien und behandeln thematisch das Straßenleben, Drogen und Gewalt. Begleitet wird dies meistens von Gitarrenriffs, die nicht nur in kurzen Samplesequenzen zusammengeschnitten werden, sondern fester Bestandteil der Songs sind, ähnlich wie in der Rockmusik. Wenn ihr also mal wieder richtig Dampf ablassen wollt ist dieses Album euer Soundtrack!

Anspieltips: „Hurtworld ‘99“ & „Yellow Piss

Holly Humberstone – Falling Asleep At The Wheel

Wie bei vielen Interpreten bin ich auf Holly Humberstone zufällig über die YouTube Empfehlungen gestoßen und wurde von ihrem dunklen Pop-Sound sofort in den Bann gezogen. Monate bevor ihr Debütalbum erscheinen sollte hörte ich bereits die Single-Auskopplungen “Deep End” und “Falling Asleep At The Wheel” rauf und runter. Minimalistische Instrumentals auf denen mit wunderschöner aber verletzt anmutender Stimme von Beziehungen und Herzschmerz gesungen wird. Dabei werden die Themen keinesfalls kitschig oder gar peinlich behandelt sondern reflektiert dargestellt. Überrascht hat mich, dass die britische Multi-Instrumentalistin und Sängerin gerade erst 20 Jahre alt ist und trotzdem dermaßen reife und gut komponierte Musik produziert. Ich bin sehr gespannt auf den Werdegang Holly Humberstones und freue mich auf die nächsten Projekte!

Anspieltips: „Falling Asleep At The Wheel“ & „Drop Dead

Kkuba102 – Sachschaden EP

Eigentlich sollte anstelle dieser Platte die EP von Bring Me The Horizon stehen, jedoch habe ich über Post Human: Survival Horror schon zu genüge im Plattenbau November gequatscht. Statt experimentellem Metalcore jetzt also doch Deutschrap. Kkuba102 bringt man normalerweise mit der Gruppe 102 Boyz in Verbindung, die schon seit ein paar Jahren ihren ausufernden Drogen und Alkoholkonsum auf modernen Trap Beats zelebrieren. Thematisch bleibt Kkuba auf seinem Solo Debüt bei genau diesen Themen, hat sich für die Beats aber noch Verstärkung des Berliner Kollektivs Tiefbasskommando geholt. Dadurch klingt die EP wie ein Techno Set mit analogen Drum Machines und Synthesizern auf das aggressiv asoziale Bars gespittet werden. “Das ist die Sachschaden Disc, das kennt Deutschrap noch nicht.” Stimmt einfach. In diesem Sinne: Prost!

Anspieltips: „Bier auf Bier rein“ & „Goldkrone

Hannes Recknagel

The O’Reillys and the Paddyhats – Dogs On The Leash

Dogs on the Leash von den Paddyhats ist so ein Album, bei dem mal wieder alles passt. Kein Song, den man jedes Mal überspringt, keine langweiligen Stellen, bei denen man vorspult. Das kommt sicher nicht zuletzt aus der, wie ich finde, genialen Musikrichtung. Irish-Folk-Punk. Quasi die Weiterentwicklung von irischer Volksmusik, die dazu mit Punkelementen erweitert wird. Ich, Fan von beidem, finde diese Kombination genial. Fiddlers Green oder die Dropkick Murphys haben dieses Genre wahrscheinlich am effektivsten für den Mainstream geöffnet. Wer hat nicht schon mal „Rose Tattoo“ auf einer WG-Feier gehört?
Die Paddyhats sind 2017 mit ihrem ersten Album Seven Hearst One Soul in dieses Genre eingestiegen und sind für mich mittlerweile nicht mehr wegzudenken.
Aber kommen wir endlich zum Inhalt. Was steckt denn genau drin in meinem Platz 1?
Da wäre der Titelsong „Dogs on the Leash“. Ein Traum vom Ausbruch und dem Abwerfen der gesellschaftlichen Ketten, wie es in irischer Musik seit langem ein Thema war und ist. Modern akzentuiert rockten sich die Wahliren von der ersten Minute an in mein Herz.
Der zweite Titel „Here it goes again“ geht der Frage nach „Wer bin ich?“. Wichtig zu wissen, wenn man ausbrechen möchte. Und schade, dass die Message so untergeht, weil meine Beine einfach nicht stillhalten wollen.
Um einen, der ausgebrochen ist und seinen Traum erfüllt hat, geht es im vierten Lied. Der „Hobo of Mitchelstown“ hat seinen Erfolg zwar unverhofft wieder verloren, aber das hindert ihn nicht daran, im Jetzt zu leben und den Moment zu schätzen. Das kann man sich gut aufschreiben und immer dann lesen, wenn man auf sein Leben schaut wie auf einen Scherbenhaufen.
Wenn man diesen Hinweis nämlich nicht befolgt, geht es einem ganz schnell wie einem von den „Millions“ aus Song Nummer 5. Wer immer von einem Erfolg auf den nächsten hinarbeitet und sich nicht mehr am Leben selbst erfreuen kann, der wird ganz schnell sehr unzufrieden. Zum Glück kann man sich bei diesem Song tanzend am Leben erfreuen. Puh, was für eine Erleichterung.
Aber egal wie man sein Leben verbringt, am Ende erwartet jeden das gleiche Schicksal. Der „Ferryman“ mit der Startnummer 6 wird jeden von uns über den Fluss der Zeit bringen, wenn die Zeit gekommen ist. Und es wäre zu schade, wenn man erst dann bemerkt, wieviel man im Leben doch nicht gemacht hat, und was man alles hätte machen können.
Ein Glück, dass ich mit diesem Album nicht sagen muss, ich hätte zu wenig getanzt. Auch wenn die Songs oft einen traurigen, nachdenklichen oder kritischen Nachgeschmack hinterlassen, schmälert dies nicht den Spaß, den sie bringen. Und jetzt los! Abtanzen, bevor es zum nächsten Album geht!

Anspieltips: „Dogs On The Leash“ & „Millions

Feuerschwanz- Das elfte Gebot

Dieses Album wurde vom Campusradio Dresden schon einmal vorgestellt, aber ich finde es zu gut, als dass ich es nicht in meine Top 3 Alben dieses Jahres aufnehmen könnte. Deswegen hier für euch: Das elfte Gebot. Feuerschwanz haben vor über 15 Jahren angefangen, Mittelaltermusik zu machen – als Parodie auf Mittelaltermusik. In ihrem neuen Album Das elfte Gebot ist davon aber nur noch wenig zu hören. Zwar nehmen sie sich nicht immer ernst, aber aus den Spaßmusikern von der kleinen Bühne ist mittlerweile ein Gigant des deutschen Powermetal und der Mittelalter-Szene geworden, derauf kaum einem Festival mehr fehlt.
Mit diesem, ihrem 10. Album, haben Feuerschwanz spätestens den Sprung in den Mainstream geschafft. Die Coverversionen von „Ding“, dem Hit von Seeed (Gibt es die Band überhaupt noch?) und Rammsteins „Engel“ haben sie gezeigt, dass man auch mit mittelalterlichen Instrumenten Musik machen kann, die ein breiteres Publikum anspricht, als es die Mittelalterszene normalerweise vermag. Doch auch innerhalb der Szene machten sie sich mit „Kampfzwerg“ neue Freunde. Endlich haben kleine Frauen in der Metalszene ihren eigenen Song. Für die größeren gibt es die „Schildmaid“. Wie auf meinen anderen beiden Alben darf die Verherrlichung von Alkohol und Exzess nicht fehlen. Meine Lieblingssongs des Albums, „Lords of Powermet“ und „Mission Eskalation“, dürften das abdecken. Was fehlt noch für das perfekte Mittelalter-Metal Album? Auf jeden Fall mindestens ein aufs Äußerste episch klingendes Stück über ein Heer aus Elben, Zwergen und Menschen! Das decken wir mit „Unter dem Drachenbanner“ ab. Eine Parodie auf alle Minnesänger? Erledigt mit „Meister der Minne“ (Welches übrigens ein tolles Musikvideo bekommen hat). Und zuletzt vorgestellt: ein Grund, der Hedonismus erst so befriedigend macht. Der Tod. Dass alles Leben ein Ende hat, zeigt uns der Titeltrack des Albums: „Das elfte Gebot“. Die Aussage: Jeder stirbt, es kann jeden Tag soweit sein, also lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter. Eine mittlerweile etwas platte Aussage, aber musikalisch sehr gut aufbereitet!

Anspieltips: „Lords Of Powermet“ & „Unter dem Drachenbanner

Gossenpoeten – Tavernentempler

Die Dichter der Straße und Helden der Welt – die Gossenpoeten – haben mir das Jahr 2020, welches an sich ja nicht so pralle war, ein bisschen verbessert, indem sie ihr 2. Album veröffentlicht haben. 38 Minuten pure Lebensfreude und ein Trinklied nach dem anderen. Eine gute Medizin gegen Lockdown-bedingte Trübsal. Bei den Liedern, die aus den tiefsten Abgründen der Mittelalterszene kommen, kriege ich immer Durst. Durst auf Bier und auf mehr von diesem delikaten Schmarrn. Kann man es mir übelnehmen, wenn die fränkische Folk-Band mit Songs daherkommt, die da heißen „Tavernentempler“, „Freibierwahn“ und „Unterhopft“? Zumindest geht es im „Liebeslied“ tatsächlich um Liebe. Sorry, falls jetzt jemand an etwas romantisches gedacht hat, es geht natürlich wieder um Bier.
Die Tanzmuffel können zu dieser Musik übrigens wunderbar zum Bierkühlschrank begeben, um dem Tun der 4 Musikant·innen gebührenden Tribut zu zollen.
Dazu kommt, dass ihr mit dieser Band wunderBAR (lol) Punkte holen könnt, wenn es mal darum gehen sollte, wer die unbekanntesten Bands kennt. Denn mit knapp über 950 monatlichen Höher:Innen auf Spotify liegt der Band nichts ferner als Berühmtheit. Außer vielleicht Nüchternheit.
Ein Album, das sicher nichts für jeden ist, aber bei der ein oder anderen Post-Corona Party für ausreichend Trinkdisziplin sorgen sollte. Da fast jedes Lied vom Flaschengeist handelt, ist es schwer eine Empfehlung abzugeben. Mein persönliches Lieblingslied ist aber „Vagabundentanz“, einfach weil es an positiver Bescheuertheit kaum zu übertreffen ist. Ist Bescheuertheit überhaupt ein Wort? Mir egal, die Gehirnzellen, um mir darüber Gedanken zu machen, habe ich mir mit diesem Album und dem dazugehörigen Umtrunk mit chirurgischer Präzision entfernt.
In dem Sinne: Prost!

Anspieltips: „Vagabundentanz“ & „Zurück in die Gosse

Jennifer Georgi

Tame Impala – The Slow Rush

Die Widersprüchlichkeit des Titels dieses Albums der australischen Psychodelic-Rockband Tame Impala will nicht viel heißen, so veröffentlichten Kevin Parker und Band im Februar 2020 ein durch und durch stimmiges viertes Studioalbum.
Dabei ließ das Nachfolgealbum des international gefeierten Currents auf sich warten. So nahm sich Parker nach der turbulenten Zeit voller Auftritte in Clubs und Festivals, Reisen und Auszeichnungen, eine Auszeit zum Reflektieren und aufatmen. Währenddessen beschäftigt er sich immer wieder mit dem menschlichen Konstrukt von Zeit, welches letztendlich zum Thema des neuen Albums wurde. Das Zeit (k)eine Rolle spielt, lassen schon die Titel wie “It Might Be Time”, “Lost in Yesterday” oder „Tomorrow’s Dust” vermuten. Passend zur subjektiven Zeitwahrnehmung treffen in The Slow Rush vintage-gefärbte Sounds im Sinne des Psychedelic-Rock der 60er Jahre auf französischen Elektro-Pop. Ein Album, das vielleicht melancholisch zurück oder desillusioniert nach vorn blickt, aber den gegenwärtigen Moment garantiert versüßt.

Anspieltips: „Lost In Yesterday“ & „Borderline

Caribou – Suddenly

Dass Daniel Victor Snaith aka Caribou früher hauptberuflich den Wundern der Zahlenwelt nachgegangen ist, scheint kaum vorstellbar – hören sich doch seine vielseitigen und qualitativ hochwertigen Produktionen ein ums andere Mal an, als hätte der promovierte Mathematiker nie etwas anderes als Musik gemacht. Bemerkenswert und wahrscheinlich der Schlüssel zum langjährigen Erfolg ist, dass man der Musik die intellektuellen Mühen, die sie gekostet haben mag, keineswegs anhört. Stattdessen offenbart sie zwischen Euphorie und Melancholie die gesamte Gefühlspalette. Die meisten können nur eines zur selben Zeit sein, intellektuell oder körperlich, euphorisch oder melancholisch, doch die im Februar 2020 veröffentlichte LP Suddenly vermag all dies zu vereinen.
Inhaltlich nähert sich das siebte Album des gebürtigen Londoners der Thematik Familienleben – Ehepartner, Kinder, Eltern und Geschwister, sowie ihre Beziehungen untereinander. Passend zu diesen zumeist schwierigen Verbindungen fallen innerhalb der 12 Songs musikalisch zahlreiche abrupte Brüche, Stopps, sowie unerwartete Richtungsänderungen auf. Auch Snaiths Einflüsse aus Afrobeat, Funk, Soul und Fusion Jazz sind unverkennbar.
Der Titel „You And I“ steht exemplarisch für die durchdachte und doch hochemotionale Arbeit des Musikers. Der Song – eine Art musikalische Traumabewältigung mit einer 80er-Jahre-Synthesizer-Melodie, geht nahtlos in hochgepitchten sentimentalen Singsang über und mündet letztlich in einem ausschweifenden Gitarrensolo – vereint sind hier im Grunde drei Tracks, die zu einem in sich stimmigen Titel verschmelzen. In „Sunny’s Time“ paaren sich hoch- und runtergepitchtes Piano und eine HipHop-Vocalsample und in „Sister“, einem überaus typischen Caribou-Song, treffen leiernder Synthesizer und märchenhafter Gesang auf elektronische Störgeräusche. Sicherlich trifft die musikalische Experimentierfreudigkeit nicht jeden Geschmack und drückt auch teilweise etwas aufs Gemüt, doch für mich zählt Suddenly auf jeden Fall zu den musikalischen Highlights des Jahres 2020.

Anspieltips: „You And I“ & „Sunny’s Time

Kelly Lee Owens – Inner Song

Ende August 2020 war es endlich so weit. Fans mussten sich länger als erwartet gedulden, denn das 3. Album von Kelly Lee Owens war bereits für Mai 2020 angekündigt. Doch das Warten hat sich gelohnt.
Die walisische Songwriterin und Produzentin war früher Krankenschwester und behandelte Krebspatient·innen, jetzt macht sie Musik, die ihr dabei hilft schwierige Themen, Erlebnisse und Gedanken zu verarbeiten. So auch im neuen Album Inner Song, auf dem die Sängerin ihre persönliche Traumata aufarbeitet.
So hatte sich im vergangenen Jahr in Owens so einiges angestaut: der Tod ihrer Großmutter, die ihr sehr nahe stand und auch eine zehrende Liebesbeziehung steckte ihr noch in den Gliedern. Um dies zu verarbeiten besuchte die Waliserin Therapiestunden, in denen sie ihre Traumata aus ihrem Körper befreit wollte – die Musik half ihr nicht unwesentlich dabei, mit ihrer Stimme rüttelte sie an ihnen Problemen, löste sie und setzte sie letztendlich frei. Dieser Prozess spiegelt sich im auf Inner Song wieder.
Ihre mentale Aufarbeitung verpackt Owens in treibenden elektronische Rhythmen, die zum Tanzen verführen. Aber auch schiebende House-Klänge, anschmiegsamer Dream-Pop und meditativ anmutende Gesangsharmonien treffen im neuen Album aufeinander.
Für mich gehört das Album zu den Top-Jahrescharts 2020, da es zum einen musikalisch aufregend und zugleich beruhigend und tiefsinnig ist. Und zum anderen zeigt es, welche Auswirkung Musik auf den Geist und die Gesundheit haben kann und wie sie Menschen dabei hilft, schwere Zeiten zu überstehen. In diesem Sinne: bleibt gesund und viel Spaß beim reinhören.

Anspieltips: „Melt“ & „Night

Leonid Lewandowski

Yves Tumor – Heaven To A Tortured Mind

Yves Tumor schaffen den über mehrere Alben andauernden Sprung von einem Ambient-Experimental-Outfit zu einer geradezu radiotauglichen Art-Rock Band. Während die Emotionen des Hörers auf den ersten Projekten noch rein über die Klangästhetik der zusammengesetzten Fragmente transportiert, die Art und Weise wie genau ein Synthesizer oder eine Trommel klingt, zelebriert wurden, gibt sich Heaven To A Tortured Mind deutlich zugänglicher. Die ausbordenden experimentellen Strukturen wurden zugunsten eines kompakten und konventionellen Albumaufbaus aufgegeben, welcher viel Raum für einschlagende Pop-Refrains geschaffen hat. Pomp und Energie sind zu einem Teil auch Co-Produzent Justin Raisen (Charli XCX, Kim Gordon, Ariel Pink) zu verdanken.
Ob man es als Funk, Pop, Glam oder Psychedelic bezeichnen will – am Ende egal. Sean Bowie, Mastermind hinter dem Projekt, spielt mit Rockstarfacetten von Persönlichkeiten wie Prince, Bowie oder Michael Jackson und inszeniert sich ganz nebenher als Prototyp der Superstar-Persona einer neuen Generation. So wie Musik mehr ist als die Summe ihrer Instrumente, spielt der Faktor Personality bei Heaven to a Tortured Mind eine tragende Rolle, die einzelnen Hits zu einem großen Ausdruck zusammen zu schnüren.

Anspieltips: „Gospel For a New Century“ & „Super Stars

Dean Blunt – Roaches 2012-2019

Auf Roaches 2012-2019 verwertet Dean Blunt Schnipsel seiner Solo-Karriere der letzten acht Jahre zu einer hypnotisierenden Compilation. Damit ist nicht nur ein Überblick und Zugang zu der schwer erschließbaren Diskographie des Künstlers gewonnen, sondern auch eine Zusammenschau aus sich ergänzenden Miniaturen, die den Hörer durch kriminelle Londoner-Straßen-bei-Nacht-Stimmung und die notorisch verkopfte Sampling-Nutzung in ihren Bann ziehen. Zwischen dem Weirdo und Prankster (der einmal einen Betrüger zur Annahme seines NME Awards geschickt oder ein mit Gras gefülltes Spielzeugauto bei Ebay versteigert hat) und dem unter unzähligen Aliasse operierenden Experimentalmusiker spannt sich die Kunstfigur Dean Blunt auf, die durch ihr Gesamtwerk eine Faszination sondergleichen ausübt.
Der Sinn für die Größe der musikalischen Momente auf Roaches 2012-2019 stellt sich erst nach mehrmaligem Hören ein und kann durch die detailreichen und fordernden Exzentriken in den ersten Momenten vernebelt werden.

Anspieltips: „TRIDENT“ & „NITRO GIRLS

Sorry – 925

Seit die ersten Promo-CDs der londoner Band Sorry schon 2018 unseren Briefkasten verstopften, habe ich ungeduldig auf das Debut der pubertierenden Indie-Rock-Retter gewartet. Hohe Erwartungen sind zwar stets eine ungesunde Angelegenheit, betrügen in diesem Fall jedoch nicht den Hörgenuss. Und zwar weil 925 eine 1A Scheibe geworden ist: Über 13 Songs wechseln sich eingängige Indie-Pop-Rock Harmonien mit Post-Punk Exkursen, die sich auch gern überraschend ins Ausgefallene öffnen. Während sich die oberflächlichen Melodien sofort im Kopf festsetzen und für Kurzweiligkeit sorgen, zeigt sich die filigrane Textur vieler Songs erst nach mehrmaligem Hören und sorgt für Wiederspielwert. Komplexität in Einfachheit, zusammen mit Balance von Experimentierfreude und Fokus machen 925 zu einem unverschämt starken Debut einer der vielversprechendsten Bands der Insel.

Anspieltips: „As the Sun Sets“ & „Perfect

Michel Deter

Lianne La Havas – Lianne La Havas

Da sehr wahrscheinlich viele Albenreviews dieses Jahr mit den Worten anfangen: „2020 war ein so wildes Jahr, doch zum Glück hat (Künstler·in einfügen) mit (Albumtitel einfügen) uns einen Moment zum Durchatmen und Genießen beschert“, werde ich darauf verzichten. Trotzdem passt auch diese Binsenweisheit bei Lianne La Havas selbstbetiteltem Neo-Soul-Album, wie das Stäbchen in den Rachen (im guten Sinne). So hat die Singer-Songwriterin aus London auch mir diesen Sommer Momente zum Dahinschmelzen beschert. Gemeinsam mit ihrem beschwingten Fingerpicking, dynamischen Songstrukturen und schwirrenden Backgroundvocals klingt der Sound ihrer dritten Platte ziemlich live, analog und persönlich. Gerade persönliche Themen hat die 31-jährige Halb-Jamaikanerin im Gepäck und singt über das Aufflammen und Absterben einer Beziehung. Besonders ihre charakteristische Stimme macht dieses Album für mich zu einem Hinhörer. Mal schwebt sie zauberhaft durch den Raum, doch nur um sich in anderen Momenten schmetternd entgegenzuwerfen. Zwar könnte ich mit unzähligen Adjektiven von anmutig bis zärtlich ihr Gesangstalent beschreiben, doch soll es hier genügen, das Wort Vibrato zu erwähnen. Diese Gesangsart beschreibt eine sich stetig verändernde Schwingung zwischen zwei Tönen, die quasi gleichzeitig stattfindet. Lianne beherrscht dies in höchster Vollendung, befiehlt sie doch somit dem Zuhörer bei fast jeder gesungenen Zeile die Augen zu schließen und jeden Ton wie einen warmen Sonnenstrahl in sich aufzusaugen. Und genau diesen musikalischen Sonnenstrahl stellt für mich das Album im Corona-Jahr 2020 dar: Eine schmerzlindernde und beruhigende Melodie inmitten eines stürmischen Meeres voller bedrückender Nachrichten.

Anspieltips: „Bittersweet“ & „Sour Flower

Tom Misch & Yussef Dayes – What Kinda Music

Tom Misch, dieser Schlawiner. Hat es der Gitarrenflüsterer doch schon wieder nach 2018 in die Top 3 meiner Jahresalben geschafft. Da ich What Kinda Music auch schon zur Platte des Halbjahres 2020 gekürt habe, drücke ich nun ohne große persönliche Ansprüche copy and paste. Bitteschön! Man nehme einen Schlagzeuger, der zwei Kochlöffel gleichzeitig benutzen kann, einen Gitarristen mit butterweicher Stimme, eine Prise süßen Bass und voila! Fertig ist eine Platte voller Gaumen… äh Ohrenschmaus. Der blonde Schmuse-Groove-Prinz aus England, Tom Misch, serviert uns hier gemeinsam mit dem Schlagzeug-Virtuosen Yussef Dayes eine dicke Scheibe Groove. Jazzig, flirrend, atmosphärisch und dynamisch kommt das gemeinsame Studio-Album What Kinda Music der beiden Londoner daher. Eine perfekte Kombo, beherrscht doch der eine sein Instrument besser als der andere. Tom Mischs Album Geography landete schon 2018 in meinen Jahrescharts und auch Yussef Dayes brachte im selben Jahr mit seinem zehnminütigen Rhythmus-Ritt von „Love is the Message“ (absolute Song-Empfehlung!) meine Lautsprecher zum Qualmen. Dementsprechend groß waren die Erwartungen an diese Zusammenarbeit der zwei kreativen Beat-Konstrukteure. Es ist eine LP auf der Drums und Gitarren-Melodien ineinander verschmelzen, beide miteinanderspielen, sich mal jagen und dann wieder friedlich zusammen auf dem Sofa kuscheln. Insgesamt war das Album für mich eine schöne Begleitung in der eintönigen Corona-Zeit, in der auch Tom Misch aus seinem Schlafzimmer mal zwischendurch „hello“ sagte (die grandiosen „Quarantine Sessions“ auf Toms YouTube-Kanal sind eine kleine Bonus-Empfehlung).

Anspieltips: „Lift Off“ & „Nightrider

Verschiedene Interpreten – Blue Note Re:imagined

London Calling! Auch mein drittes Album kommt aus der Hauptstadt Englands und macht so langsam deutlich was alle ahnten: Die aufstrebende und innovative UK Jazz Szene hat’s mir angetan. Da kommt diese Platte gerade wie gerufen und lässt mir beim Anblick der Künstlerliste das Wasser im Mund zusammenlaufen. Auf Blue Note Re:imagined versammeln sich insgesamt 16 junge britische Musikerinnen und Musiker, um bekannte Klassiker des Blue Note Katalogs ganz neu zu interpretieren. Gerne würde ich schreiben, dass mir Blue Note Records schon vor diesem Jahr ein Begriff war, aber das ist leider nicht der Fall. Gegründet wurde das Plattenlabel Ende der 30er Jahre und veröffentlichte eine Vielzahl von einflussreichen und stilprägenden Jazzalben. Auch wenn meine erste selbstgekaufte CD ein Sammelalbum des Modern Jazz Quartets war, sind es unteranderem die hier auftretenden Künstler·innen gewesen, die meine Liebe zu Jazz und Soul in den letzten Jahren wieder neu geweckt haben. Da wäre zum Beispiel Jorja Smith, Brit Award Gewinnerin 2019, welche nach ihrem Debütalbum Lost & Found hier den Titel „Rose Rouge“ des Franzosen St. Germain in einer Art und Weise reinterpretiert, bei der einem ganz warm ums Herz wird. Mit dabei ist auch die fünfköpfige Jazzfusionband Ezra Collective, der Klaviervirtuose Alfa Mist oder dessen Kumpel und Soulsänger Jordan Rakei, welche beide sehr gut mit Tom Misch befreundet sind und einen gemeinsamen Podcast produzieren. Man sieht also: Auf der Insel ist die Jazzszene gut vernetzt und exportiert somit seit Jahren frische Talente und groovig-inspirierende Klangerlebnisse. Mit Blue Note Re:imagined servieren uns die Engländer diesmal eine große Tüte Fish’n Chips: Prall gefüllt mit fetten Beats und knusprig panierten Happen. Da kriegt man gleich Appetit auf das, was in den nächsten Jahren so kommen mag!

Anspieltips: „Etcetera (Visualiser) & Afronaut Zu – Steam Down“ & „Jorja Smith – Rose Rouge

Peggy Rudolph

The Palms – Charlie

Ein bisschen Hip-Hop, ein bisschen Blues, ein bisschen Rock, ein bisschen R&B. Welches Genre fehlt da nun noch? Ja, in all’ diesen Bereichen finden sich The Palms wieder, bestehend aus Johnny Zambetti und Ben Rothbard. Alles begann, als die beiden den Drang verspürten, die Grenzen der Musik außerhalb ihrer ursprünglichen Band Terraplane Sun auszutesten und auszuweiten. Wie der Bandname erahnen lässt, kommen beide Künstler aus Los Angeles und produzieren hier selbstständig ihre Musik. Charlie ist nun bereits das zweite veröffentlichte Album der Band. Mit unverwechselbaren Sounds, verträumten Synthesizer Klängen und den vielfältigsten Vocals setzt das Duo ihr neu entfachtes Feuer um und strahlt frische Energie aus. The Palms sind auf der Suche nach Freiheit und dem Sinn im Leben. Die Songs sind sehr facettenreich, mal happy und energetisch, mal langsam, bedächtig und nur begleitet von der Gitarre. Sie vermitteln nicht immer eine Botschaft und lassen somit viel Raum zur Interpretation.
Lasst uns ganz im Sinne von diesem Textauszug aus dem Track “Jello“ ins neue Jahr rutschen:

“So mellow, like Jell-O
Just take it slow, like a holiday
We’ll be just like kids sippin’ lemonade
So yellow, like Jell-O“

Anspieltips: „Nostalgia City“ & „Jello

Sam Smith – Love Goes

Bereits bei der Veröffentlichung von “How do you sleep?“ in 2019 war klar – da kommt etwas ganz neues! Endlich, im Oktober erschien Smith Smith’s neues Album Love Goes, eines der empowerndsten Alben des Jahres 2020. Smith bezeichnet es als “first proper heartbreak album“, denn im Gegensatz zu seinen älteren Alben dreht es sich nicht nur um erdrückenden Schmerz, nein, er macht aus Zitronen Limonade! Das somit dritte Album des 28-jährigen Londoners sprüht förmlich vor Energie und Positivität. Vor allem aber ist es vielseitig und facettenreich. Emotionale Balladen laden ein in eine ruhige, friedliche Klanglandschaft, stimmen nachdenklich und melancholisch. Und nur ein paar Minuten später wird die Stimmung wieder belebt und angeheizt durch spritzige funky Disco-Klänge, die zum ausgelassenen Tanzen einladen – natürlich ganz regelkonform in den eigenen 4 Wänden. Sam Smith begeistert mit ganzen 17 Tracks aus dem R’n’B-Soul-Pop und holt sich hier Unterstützung von bekannten Künstler·innen, wie beispielsweise Demi Lovato, Calvin Harris oder Normani.
Nun, ich glaube, dass dieses Album mir so einige Momente im grauen Corona-Alltag versüßt hat. Hört doch mal hinein!

Anspieltips: „How Do You Sleep?“ & „Young

Gus Dapperton – Orca

Meine absolute Lieblingsentdeckung in 2020. Orca von Gus Dapperton wurde im September veröffentlicht und ist geprägt durch Indie und Dream-Pop Töne. Dapperton’s zweites Album trägt einen besonderen Titel, denn er kündigt bereits an, mit welchen Themen er sich hier auseinandersetzt. Der Sänger verweist auf die Gefangenschaft vieler Orca-Wale. Deren grausame Freiheitsberaubung vergleicht er mit dem Menschenleben selbst, denn auch der Mensch kann sinnbildlich in einem Käfig eingesperrt und seiner Freiheit beraubt sein. Nur ist dies nicht immer auf den ersten Blick sichtbar. Somit lädt der Sänger ein in seine Gefühlswelt; in eine Gefühlswelt, die seine Songs melancholisch, düster, aber auch jugendlich-verträumt färbt. Knallig bunt gefärbt sind auch Dapperton’s Haare und Outfits, welche die Zuhörer zusammen mit den Klängen des Künstlers in einen bekannten amerikanischen High School Film in den 90er Jahren zurück entführen. Gitarren, Chöre, Klavier und seine kratzige, aber hohe Stimme – 10 spannende Tracks von Gus Dapperton, die man definitiv nicht verpassen sollte.

Anspieltips: „Palms“ & „Grim

Peter Zeipert

Sufjan Stevens – The Ascension

Getreu seinem inzwischen etablierten 5-Jahres-Rhythmus regulärer Veröffentlichungen tritt Sufjan Stevens mit seinem neuesten Streich The Ascension im Gepäck pünktlich wieder ins Scheinwerferlicht des großen, bunten Popzirkus. “Make Me An Offer I Can Not Refuse” heißt gleich der Opener von Stevens’ Neuling und in der Tat: So sehr man sich auch wehren mag, man wird sich seinen aufregenden und fein ausstaffierten Elektropopkleinoden nicht entziehen können. Der Nachfolger vom asketischen Carrie & Lowell setzt dessen Intimität zwar eine kühle Programmiertheit entgegen, schafft es aber wie zuletzt in dieser Größenordnung wohl nur Radioheads Kid A und anders als der stilistisch ähnlich gelagerte Vorvorgänger The Age of Adz, seine pluckernde Kalkuliertheit emotional im richtigen Maße aufzuladen, denn die Schaltkreise von The Ascension werden von zuckersüßen Melodien und der zärtlich-salbenden Stimme des Sufjan S. durchblutet. Einziges Manko: Bei 80 Minuten Spieldauer bleibt die ein oder andere Länge leider nicht aus. Wer mag darf “Sugar” also gern skippen und sich freuen, dass das Popjahr 2020 mit herausragenden Songs wie dem Doppelgespann “Death Star”/”Goodbye To All That”, der Tears-for-Fears-Verbeugung “Lamentations”, “Landslide” oder dem abschließenden 12-Minüter “America” beschenkt wurde.

Anspieltips: „Death Star“ & „America

Ana Roxanne – Because Of A Flower

“Changeable, accepting, merging, water moves fluidly from one form to another, easily transitioning from cloud to raindrop to sea”, heißt es in “Venus”, dem zentralen Stück von Ana Roxannes Zweitling. Müsste man ein Element wählen, das jenes Because of a Flower am besten beschreibt, wäre es wohl Wasser. Das betrifft nicht nur die fließenden, plätschernden und tröpfelnden Eigenschaften der Musik, sondern auch Ana Roxanne selbst, deren Lyrics unschwer als klare Absage an binäre Geschlechterzuschreibungen (Roxanne ist selbst intersexuell) und kategoriale Einpassungszwänge zu deuten sind. Dieses Prinzip der Grenzenlosigkeit trägt trotz unterschiedlicher Stimmungslagen auch die restlichen Tracks und verleiht Because of a Flower seine Form: “A Study in Vastness” macht so seinem Namen alle Ehre, “—” ist ein Hauch von Song und perlt new-ageig in Richtung Unendlichkeit, in “Camille” schweben Roxannes fragile Vocals daher und treiben auf Synthiewölkchen davon und “Take the Thorn, Leave the Rose” simuliert mit seinen reduzierten, Post Rock andeutenden Gitarrenakkorden ein Gefühl von Weite und Ewigkeit, das eine·n schließlich aus diesem wunderbaren Album entlässt.

Anspieltips: „Camille“ & „Venus

Better Person – Something To Lose

Mit ordentlich Schmalz kommen sie daher, die 9 neuen Songs von Adam Byczkowski alias Better Person und begründen dabei wohl das Herzschmerzpop-Album des Jahres. Soundästhetisch und stimmungstechnisch irgendwo im Spannungsfeld von David Lynch, George Michael und Talk Talk angesiedelt, liefert Liebe, das ewige Theodizee-Thema des Pop, den thematischen Überbau von »Something To Lose«. Die sehnsuchtsvolle Geste des Albumcovers transportiert sich so folgerichtig auch in die Musik hinein: Praktisch jeder Song zeigt sich im Modus des Lamento und ist tongewordene Rührung, als wolle Byczkowski das Distanzierungsdiktat des pandemischen Jetzt durch die Präsenz und Unmittelbarkeit der direkteinschießenden Gefühlsspitzen seines hochlodernden, dauerwunden Herzens aufheben. Trotzdem wird die fluffige Soft-Rockigkeit in Better Persons Debüt immer mal durchbrochen, etwa durch den Saxophon-Furor in “Hearts On Fire”, dem womöglich größten Hit dieses Albums, das eigentlich ausschließlich aus Hits besteht und seine Botschaft so universell in die Welt rausschickt, dass nicht einmal die potentielle Schranke der polnischen Heimatsprache, in der Byczkowski seine Kammerstückchen dann und wann vorträgt, zum Hindernis auf dem Weg in die Herzen der Hörerschaft wird.

Anspieltips: „Hearts On Fire“ & „Bring Me To Tears

Philipp Hechtfisch

Tame Impala – The Slow Rush

Dass Tame Impala schon längst die Spitze des weltweiten Pops erklommen hat, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Nach vier Jahren Abstinenz folgt mit The Slow Rush das vierte Studioalbum des australischen Multiinstrumentalisten Kevin Parker. Während das Debütalbum Inner Speaker und das darauffolgende Lonerism an psychedelischen Rockeinschlägen kaum zu übertreffen waren, trumpfte Currents mit überschwänglichen Bass- und Synthesizerklängen. Das neue Album schafft den Spagat zwischen beiden Richtungen und wirkt dadurch vielschichtiger und abwechslungsreicher. Doch beinahe hätte The Slow Rush ganz anders geklungen, wäre nicht das Haus Parkers durch einen Waldbrand im sonnigen Malibu zerstört wurden. Glück im Unglück, denn mit einer Lauflänge von knapp einer Stunde entpuppen sich die zwölf Songs als eine Fahrt, rückwärts durch die Zeit. Es geht um Nostalgie, Vergebung und Reflektion des bisherigen Lebens.
In diesem Kontext steht auch der Track “Posthumous Forgiveness”. In der ersten Hälfte werden aggressiv-rhythmische Synthesizerbässe aufgefahren, welche sich im zweiten Teil des Liedes zu einer harmonischen Vergebung an seinen verstorbenen Vater entwickeln. Das schwierige Verhältnis der Beiden reflektiert Parker in diesem Track.
Mit “It Might Be Time” wird ein wahnsinniges Schlagzeugfeuerwerk abgeliefert, die die im Text beschriebene Angst vor der inneren Paranoia perfekt untermalt. Ebenso gewaltig wirkt “One More Hour”, der schon fast wie eine kleine psychedelische Rockoper daherkommt und damit den krönenden Abschluss des Albums bildet. Jeder Song fühlt sich vielfältig an und selbst nach dem zehntausendsten Mal hören, entdeckt man immer wieder neue Details, die einen vorher noch nicht aufgefallen sind. Tame Impala ist für mich schon lange im Musikolymp angekommen. Jedoch werden jetzt sicher wieder einige Jahre ins Land gehen, bevor Kevin Parker uns mit neuen Kreationen überrascht.

Anspieltips: „Posthumous Forgiveness“ & „Breathe Deeper

Parcels – Live Vol. 1

Geschlossene Tanzflächen, leere Bars und stumme Wände zieren die Klubkultur dieser Tage. Was waren das für Nächte im Ostpol oder der Groovestation, in denen unentwegt das Tanzbein geschwungen wurde und die stickige Luft einem den Schweiß auf die Stirn treibt. Doch ein Lichtblick am Horizont holte das schimmernde Diskolicht in meine eigenen Wände zurück. Es handelt sich um (keine geringere) Band als Parcels. Die vier Wahlberliner aus Australien, namentlich Patrick Hetherington, Louie Swain, Noah Hill, Anatole Serret und Jules Crommelin, haben mit ihrem zweiten Album Live Vol. 1 den schillernden Discostern erneut zum Leuchten gebracht. Allerdings wird man auf der Platte vergeblich nach neuen Liedern suchen denn wie schon der Titel verrät handelt es sich hierbei um ein Live-Studio-Album, das in den Hansa Studios in Berlin aufgenommen wurde. Ganz richtig: das Studio, in dem unteranderem Iggy Pop, Depeche Mode und Nick Cave & The Bad Seeds weltweite Erfolgsalben produzierten. Nichtsdestotrotz erweitern und interpretieren Parcels ihre bisherigen Songs neu und warten in gewohnter Funk, Soul, Elektropop-Manier auf, der wie ein Mix aus Chic, Daft Punk und Jungle klingt. Nicht nur auditiv bieten Parcels mit den Titeln “Redline”, “IknowhowIfell” und “Elude” ihre eigene kleine Groove-Symphonie, sondern auch in visueller Form. Begleitet wurde die ganze Session von der Regisseurin Carmen Crommelin, die ihre Eindrücke wie folgt beschreibt:

“The magic of Parcels needs no added narrative if you’re lucky enough to witness them in creation. I wanted the camera to be both passive and intimate, so you could politely observe from a distance and walk through the room like a friend.”

Parcels waren und sind für mich Liebe auf den ersten Blick und verzaubern mich jedes Mal aufs Neue mit ihren funkigen Gitarren, Synthesizerklängen, polyphonen Gesangseinlagen, die gepaart mit ihrem 70er Jahre Erscheinungsbild die perfekte Kombination bilden.

Anspieltips: „Lightenup“ & „Iknowhowtofeel

Human Barbie – Get A Life

Der in Los Angeles, Kalifornien lebende Musiker Christopher Leopold, besser bekannt unter dem Namen seines Projektes Human Barbie, hätte beinahe das Musikmachen an den Nagel gehängt. Nachdem er sich von seiner damaligen Band The Fuzzy Crystals getrennt hatte, stand er an einem Scheideweg:

“I felt like I either needed to make something of my own or just stop and forget about recording music and being in bands.”

Zum Glück entschied sich Leopold für ersteres und präsentierte dieses Jahr sein Debütalbum mit dem Titel Get a Life. Der Eröffnungssong entführt uns mit sanften Cembaloklängen in die Welt von Human Barbie, die zwischen 60er Jahre Psychedelic-Rock, Baroque Pop und Bedroom Pop schwingt. Das knapp dreißigminütige Album wurde komplett auf analogem Tape aufgenommen und klingt somit nicht nur authentisch, sondern ist es auch. Der titelgebende Track Get a Life beschreibt, im Korsett melancholischer Countrygitarrenklängen, einen ordinären Lebensweg, ohne jemals den Mut gehabt zu haben etwas zu riskieren.

“Suck it up and get a job,
cause that’s what everybody does.
Nevermind the pain,
you’ll never come this way again.”

Human Barbies Texte sind oft durchzogen von einer seltsamen Traurigkeit, die jedoch im gleichen Moment von eskapistische Hoffnung geprägt sind. Der letzte Song “Be Careful What You Wish For” könnte dieses Gefühl nicht besser ausdrücken und bildet für mich den Abschluss eines Album, welches meine Gefühlswelt im Jahr 2020 perfekt widerspiegelt.

Anspieltips: „Get A Life“ & „Be Careful What You Wish For

Philipp Mantze

The Microphones – Microphones in 2020

2020 war nicht nur schlecht. Januar und Februar zum Beispiel. Was danach als ein Jahrhundertereignis über uns hereinbrach, haben so sicherlich die wenigsten erwartet. Denn als Phil Elverum im Juni ein neues Album unter seinem eingestaubten, jugendlichen Alias namens Microphones ankündigte, war die Verblüffung mehr als groß. Nicht nur liegt Mount Eerie, das letzte Album unter diesem Alias, 17 Jahre zurück, auch darf die Frage erlaubt sein, warum die Wiederbelebung eines Namens, der für Elverums frühe Schaffensphase stand, denn ausgerechnet jetzt stattfand. Corona wäre eine allzu leichte Verlegenheitsantwort. Die Albengenese begann eigentlich schon im Mai 2019, „In another time and another world“, gefolgt von einem Konzert unter dem Microphones Namen. Gleichwohl gesteht er ein: „maybe it’s well suited to a more slow and contemplative time.”

Warum? Der 42-Jährige Phil Elverum hat mit diesem Album versucht, seiner eigenen musikalischen Biographie auf die Schliche zu kommen, einen Zusammenhang zwischen seinem 17-, 20- oder 23-jährigen und seinem „erwachsenen“ Ich herzustellen. Entscheidende wegweisende Meilensteine, die irgendwo auf seinem Werdegang einmal Bedeutung hatten, ausfindig zu machen. So singt er etwa von dem einschneidenden Erlebnis eines Martial-Arts-Films in einem Openairkino, von einem Stereolab-Konzert, wo 15 Minuten lang ein einziger Akkord gespielt wurde. Aber natürlich geht es Elverum um mehr, als nur Fanboys und -girls geheime Details aus der Microphones-Zeit mitzuteilen, es geht um „something deeper […] that unterlies the exterior circumstances“. Ein Versuch des transdenzentalen Herausbrechens aus der Alltäglichkeit.

Im Eingangssatz wie auch danach immer wiederkehrend beschwört Elverum „the true state of all things“ herauf. Zumindest versucht er das. Der Versuch der Erzählung seiner musikalischen Lebensgeschichte und damit dem Versuch einer sinnstiftenden Erzählung stößt angesichts der conditio humana an seine Grenzen. Der Wind, das Wasser, das Feuer, alles geht weiter seine Bahnen, gleichgültig, aber mit einem Schmunzeln angesichts unserer Versuche, mehr als die bloßen Phänomene zu spüren. „The true state of all things is a waterfall with no bottom crashing end“. Wie besessen von der Idee der Ewigkeit, versuchte Elverum (u.a. angestoßen durch das Stereolab-Konzert) diese in seine Musik zu bringen. Doch bereits kurz nach der Veröffentlichung seines Meilensteins The Glow Pt.2 war er beim dächlichen Anblick des Mondes fasziniert und beängstigt zugleich: „Beneath a real infinity I felt my size […] seeing just for a secound the bottomless distance pressed against my face“.

Dass der Versuch, der schieren Absurdität unserer kleinen, allzu unbedeutenden Existenz dennoch Herr zu werden wohl niemals endet, spiegelt sich am deutlichsten in der musikalischen Komposition selbst wieder: ein einziger 45-minütiger Song, als Grundgerüst eine Akustikgitarre, die immer wieder die 2 gleichen Akkorde spielt: „I will never stop singing this song. It goes on forever“. Die harmonische Gitarre wird dabei recht im Stile seiner früheren Jahre immer wieder von vezerrenden Basslines, mächtigen Drone-Wänden und geschliffenden Drums überlagert. Auffällig ist, dass deren Einsetzen immer in Zusammenhang zum Textlichen zu stehen scheint.

Ihm ging es in diesem Album auch um eine Demystifizierung, eine Desillusionierung, um zu den „wahren Dingen“ zurückzukehren, fernab von Namen, Symbolen und dergleichen. Gerade für junge Leute dürfte es eine vielleicht zunächst schwierige, aber später befreiende und entlastende Botschaft sein, dass das Leben weniger eine Entwicklung mit Prolog-Hauptteil-Epilog ist, sondern sich die Dinge nur in der Zeitlichkeit unterscheiden, dass ich morgen noch der selbe wie heute sein werde. Dass uns die großen Fragen in einer entzauberten Welt auch nach Jahren nicht in Frieden lassen.

Anspieltipp: „Microphones in 2020

Do Nothing – Zero Dollar Bill

Zyniker würden sagen, die britische Band Do Nothing wäre ohne die Vorkommnisse von 2020 in der Bedeutungslosigkeit geblieben. Vorher hätte wohl niemand erwartet, dass Nichtstun derart sexy und geradezu zum Imperativ unserer sonst auf Steigerung und Beschleunigung gerichteten Welt werden könnte. Seis drum, ich kann mit Stolz behaupten, die Band noch in ihren Kinderschuhen auf dem Reeperbahnfestival erstmalig gehört zu haben, wo sie sich auch nicht zu wichtig nahmen, offen zugeben zu können, dass es „so close“ war, dass sie beinahe gar nicht dort gelandet wurden.

Schon dort war die Bühnenpräsenz stark von Sänger Chis Bailey geprägt, der in Sachen Outfit und Posing Alex Turner durchaus Konkurrenz macht. Aber wenn das nicht schon genug wäre, brilliert er mit einer ungewohnten Stimmgewalt, die über weite Teile mehr Spoken-Word als Gesang ist, aber von einer teils mafiösen Aussprache geprägt ist und dabei regelmäßig in unerwartete Ausbrüche abdriftet. Inhaltlich wirkt alles mehr nach stream of consciousness und so manch eine Zeile wirkt bei näherem Hinschauen noch viel zusammenhangsloser als bei bloßem Hören.

In Sachen Instrumentarium ist die vier-köpfige Band recht klassisch aufgestellt: 1x Schlagzeug, 1x Bass, 1x Gitarre. Die Songs sind (nicht nur auf der EP) sehr gekonnt aufgebaut, als wäre Songwriting für eine Newcomerband eine selbstverständliche Sache. Zwar halten sich die Strukturen in Länge (selten mehr als 4 Minuten) und Aufbau (Verse-Verse-Pre-Chorus-Chorus-usw.) vielfach an Konventionen, aber der tanzbare Post-Something wird so manch einen Rock-Veteranen wieder ins Boot holen. Verwunderlich ist es nicht, dass bislang eigentlich jede Person, der ich die Band gezeigt hab, jubilierend „Do Nothing“ geschrien hat, während die Bundesregierung applaudiert.

Anspieltips: „LeBron James“ & „New Life

Sprain – As Lost Through Collision

Auf ihrer zwei Jahre zuvor erschienenen selbstbetitelten EP war das kalifornische Quartett Sprain noch sehr den fürs Slowcore-Genre stilprägenden, verschlafenen und gemächlich vor sich hin stampfenden Melodien verpflichtet, auch trotz teils widersprüchlicher Songtitel („True Norwegian Black Metal“). Zwar gab es etwa in „Deliver us“ an Codeine erinnernden kontrastierenden Gitarrenlärm, doch in ihrem im September erschienenen Debüt-Album As Lost Through Collision hat die Band, die zwischenzeitlich beim eher für abgründigere Musik stehenden Label The Flenser unter Vertrag steht, einen recht gewaltigen Quantensprung hingelegt, auch in puncto Lautstärke. Nicht verwunderlich, dass sie vorwiegend mit Post-Hardcore Bands der 90er Jahre, wie Slint, Unwound oder Jawbreaker in Verbindung gebracht werden. Alles eine Frage des Platzes, wie die Band im Hinblick auf ihre gewachsenen Räumlichkeiten preisgab. Wie bei einem Buch der erste und der letzte Satz von nicht geringer Bedeutung sind, kann man dies mit Fug und Recht auch für die ersten und letzten Sekunden eines Album behaupten. Denn schon hier wird der Kontrast zur Vorgänger-EP offenbar: Gitarren und Schlagzeug, die sich in Unwound’scher Manier diskontinuierlich abwechseln, vorpreschen, um dann doch in letzter Sekunde in sanftere Gefilde zu flüchten. In „My Way Out“ geht es slower als slow zu, Sänger Alex Kint säuselt unverständlich, geradezu weinerlich, von subtilstem Instrumentarium begleitet bis es nach einigen Momenten aus „heiterem“ Himmel wieder über einen hereinbricht. So oder so ähnlich geht es vielfach zu: Dissonanzen paaren sich mit schweren Basslines, gehen auseinander, plötzlich schreit jemand und dann wird es unerhört still und kontemplativ. Nur um im nächsten Moment wieder aus dem Hinterhalt die letzten Trommelfellreste zu beseitigen. Ein wahrhaftes Schmackerl für Freundinnen und Freunde des gepflegten Draufhauens.

Anspieltips: „Worship House“ & „Everything

Szymon Chrost

Jessie Ware – What’s Your Pleasure

Irgendwann habe ich den Überblick über Jessie Wares neue Produktionen verloren. Sie waren sehr statisch, langweilig, ich konnte ein Album nicht vom anderen unterscheiden. Es gab nichts Aufregendes an ihrer Musik, bis sie ihr neuestes Album What’s Your Pleasure vorstellte, das das komplette Gegenteil zu ihren vergangenen Produktionen ist. Die Songs sind aufregend, sie sind glamourös, sie sind verführerisch. Das ganze Album klingt wie aus einem Saturday Night Fever Soundtrack – es strahlt das Gefühl einer funkelnden Discokugel in einem nebligen Club aus, eine Art Luxus, der jeden Song zu etwas ganz Besonderem macht.
Jessie Ware hat auf What’s Your Pleasure einen Schritt aus ihrer Komfortzone gemacht, das ist das Statement des Albums. Wenn ich es mir anhöre, erinnert es mich an ihre ersten Features mit Künstlern aus der elektronischen Musikszene wie Disclosure, SBTRKT oder Sampha, wo sie die gleiche (hohe) Menge an guter Energie und Flow hatte. Ich kann nicht aufhören, zu diesem Album zu tanzen. It’s my pleasure.

Anspieltips: „Step Into My Life“ & „Remember Where You Are

Gorillaz – Song Machine, Season One: Strange Timez

Ich war wirklich traurig über die Tatsache, dass die meisten Musikfestivals in diesem Jahr abgesagt wurden, aber wer braucht das schon, wenn man sich einfach das neueste Album der Gorillaz anhören kann. Die Anzahl und Qualität der Gäste auf diesem Album könnte so manches Festival erfüllen.
Kohärenz war noch nie wirklich ein Markenzeichen der Gorillaz-Ästhetik. Selbst der Kopf der Band, Damon Albarn, kann die Musik der Gorillaz nicht definieren. Aber das ist nun mal auch das Besondere an den Gorillaz. Albarn lässt sich immer wieder neue kreative Ideen einfallen, wie er das Potenzial seiner Gäste nutzen kann. Mehrere Momente bieten interessante, generationenübergreifende Riffs auf die Musikgeschichte. Auf “Momentary Bliss” zollt der Rapper Slowthai den Specials Tribut, “Opium” ist ein Symbol des Acid-House der Achtziger und “Aries” ist eine perfekte New-Order-Hommage, bei der Peter Hook von New Order am Bass zu hören ist. Und das ist noch nicht alles! Die erste Episode der Staffel eröffnet mit “Strange Timez” mit Robert Smith, in der er sich wundert, dass sich die Welt immer noch dreht, Schoolboy Q vergleicht auf “Pac-Man” das Leben mit dem Spiel (“I’m a mad Pac-Man/ Livin’ in a leveled world”) und dann gibt es auch noch einen berührenden und gefühlvollen Track “Désolé” mit Fatoumata Diawara.
Natürlich kann man nun entgegnen, dass das ganze Album aufgrund dieser Beschreibung sehr chaotisch klingt, aber das ist das Schöne daran. Es ist eine LP, die aus einem Hit nach dem nächsten besteht. Es gibt keinen Grund, etwas zu definieren, wenn das musikalische Ergebnis so spaßig ist.

Anspieltips: „Opium“ & „Désolé

Sevdaliza – Shabrang

Die im Iran geborene Sevda Alizadeh ist bekannt für ihre dunkle, ernste elektronische Musik mit viel Emotion, Gefühl und Empathie. Nach drei Jahren hat Sevdaliza ein Album veröffentlicht, das ihre sinnlichen Melodien zugunsten eines rohen, bescheidenen Klangs verbannt, der mit dem Schmerz gefüllt ist, den man schon auf dem Cover des Albums erkennen kann.
Während des gesamten Albums bewegt sich Sevdaliza anmutig zwischen verschiedenen Musikstilen: von Art-Pop bis Trip-Hop oder sogar traditionellen persischen Einflüssen, die ihr Erbe feiern. Klassische und orchestrale Einflüsse durchdringen das gesamte Album, wobei das Klavier neben Sevdalizas unverwechselbarer Stimme die Hauptrolle spielt. Wenn ich ihr zuhöre, habe ich das Gefühl, dass kein einziger Ton, der von ihr kommt, durch Zufall entstanden ist. Lyrik, Intonation, Lautstärke – hinter all diesen Dingen verbergen sich tiefe Gedanken, die auf viele verschiedene Arten interpretiert werden können.
In Sevdalizas Augen sind das Gute und das Böse voneinander abhängig, sie leben in einer Symbiose zusammen. Hier ist nichts offensichtlich – Unschuld verwandelt sich unmerklich in Schuld. Auf Shabrang versucht Sevdaliza, ihre dunkle Seite zu erforschen und gleichzeitig auch zu entdecken, wozu wir fähig sind, um der Dunkelheit des Schattens unserer Seele, die uns früher oder später einholen wird, um jeden Preis zu entkommen.

Anspieltips: „Darkest Hour“ & „Shabrang

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Der Beitrag Unsere Alben des Jahres 2020 erschien zuerst auf Campusradio Dresden.

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